Eine Frau - Ein Bus
Haus. Ihre Geschichte, geprägt von Opfern, Kampf und Verzicht, stand in krassem Gegensatz zu der Opulenz und der privilegierten Stellung von Nathaniel Russell House, wo die Frau eines Gouverneurs
während ihres Aufenthalts in Frankreich ein Klavier mit der expliziten Anordnung anfertigen ließ, dass eine Oktave fehlen musste, damit das gute Stück während der Rückreise auf dem Schiff in ihren Salon passte.
Kurz bevor wir Myrtle Beach verließen, lernten wir in einem Restaurant einen Mann mit demselben Nachnamen wie Tim kennen (entweder unsere Reservierung fiel zufällig zusammen oder, wenn man es nach Boulder-Manier ausdrücken möchte, es sollte so sein. Bei den seltenen Besuchen bei seinem Vater hatte Tim stets das Gefühl gehabt, mit halb Arkansas verwandt zu sein, doch dieser Mann (der seinen familiären Hintergrund kannte) schien tatsächlich ein Cousin zu sein, wenn auch ein entfernter.
Als wir nach dem Essen bei Kaffee und einem Dessert zusammensaßen, erfuhr Tim mehr über seine familiären Wurzeln, als ihm je jemand erzählt hatte, und ihm ging auf, dass er, ebenso wie ich, aufgrund irgendwelcher Mutmaßungen eine ganze Menge verpasst hatte. Er hatte sich nie für den in Arkansas lebenden Zweig seiner Familie interessiert, hauptsächlich, weil er als Kind das Gefühl vermittelt bekommen hatte, dieser Teil seiner Familie sei etwas, dessen man sich schämen musste. Sein Vater redete nie über seine Verwandten und nahm Tim niemals zu irgendwelchen Besuchen mit. Als Erwachsener, kurz nach unserer Hochzeit und einige Jahre nachdem sein Vater aus Reno zurück nach Arkansas gezogen war, machte Tim sich das erste Mal auf den Weg, um ihn zu besuchen. Damals nahm Bob ihn zu einer älteren Frau mit. Tim hatte das vage Gefühl der Vertrautheit, konnte es jedoch nicht recht zuordnen. »Das war die Zwillingsschwester deiner Großmutter«, erklärte Bob ihm später.
Tim hatte nicht gewusst, dass seine Großmutter eine
Schwester gehabt hatte, von einem Zwilling ganz zu schweigen.
Doch als er nun hörte, dass seine Vorfahren Speerträger für William den Eroberer gewesen waren, dass ein späterer Verwandter, der als Major in der britischen Armee gedient hatte, Fahnenflucht begangen hatte, um sich der Revolution anzuschließen, und dass mehrere andere Familienmitglieder aus der jüngeren Vergangenheit in die Hatfield-Familie eingeheiratet hatten, wurde Tim bewusst, dass die wahre Familiengeschichte im Grunde nicht wichtig ist, sondern nur, dass seine Familie - so wie jede andere auch - eine Geschichte hat.
Ich muss mich bei Margaret Mitchell (und bei meinem leidgeprüften Mann) entschuldigen, aber während unseres gesamten Aufenthalts in Atlanta, Georgia, musste ich »Großer Gott, Miss Scarlett, ich weiß nich’, was tun, wenn kommen Bus« schreien. Vielleicht hätte ich in diesem Sommer in der siebten Klasse Vom Winde verweht lieber nicht dreimal lesen sollen. Tim kannte natürlich nur den Film, in den ihn seine Freundin auf dem College geschleppt hatte. Er erinnerte sich, dass er in der Schlange vor der Kasse gerätselt hatte, wieso alle anderen Kissen mitgebracht hatten. Als nach zwei Stunden die Lichter im Saal angingen, dachte er: »Wow, was für ein seltsames Ende für einen Film, aber okay«, und wollte gehen, als ihm seine Freundin erklärte, es sei erst Pause. Kein Wunder rieb er sich jedes Mal den Hintern, wenn ich meine Prissy-Imitation zum Besten gab.
Als Hardcore- VWV- Fan war ich vom Atlanta Cyclorama mit der Rhett-Butler-Überraschung ganz besonders hingerissen. Es existiert seit 1893 und rühmt sich, das älteste seiner Art in den USA zu sein. Im Prinzip ist das Zyklorama
ein zylinderförmiges Kunstwerk von knapp fünfzehn Metern Höhe und einem Umfang von rund hundertzwanzig Metern, in dem das größte Gemälde der Welt dargestellt ist. Es zeigt die Schlacht von Atlanta, die sich innerhalb von neunzehn Minuten einmal vollständig um den Besucher dreht. (Ich musste vor dem Betreten natürlich erst sicherstellen, dass es auch Sitzmöglichkeiten gab.) Doch erst die Musik, die Erzählstimme und die Figuren im Vordergrund lassen es zu einer »Show« werden. Die Künstler, die das Zyklorama erschaffen haben, waren ausnahmslos auf bestimmte Details spezialisiert: einer war für den Himmel zuständig, ein anderer malte nur die Pferde, ein anderer sämtliche Gesichter. Offenbar waren Zykloramen früher sehr populär und wurden von den Siegern verschiedener Kriege in Auftrag gegeben (denen des
Weitere Kostenlose Bücher