Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Chefsekretärin legte sich auf den linken Arm, Herr Schäfer auf den rechten. Eine Telefonistin eilte herbei und knüllte ein weißes Taschentuch zusammen und steckte es in Form eines Knebels in Herrn Riedingers Mund. Zweimal schien es so, daß ich den ungeheuren Kraftstößen aus Herrn Riedingers Brust nicht standhalten konnte. Nach zwei Minuten ließen die Krämpfe deutlich nach. Die Telefonistin zog das Taschentuch aus Herrn Riedingers Mund, ich stieg von seiner Brust herunter wie nach einem gewonnenen Rennen. Die Kontoristin besorgte ein Kissen und schob es unter Herrn Riedingers Kopf. Ich wollte schon weggehen, aber der Exportchef sagte: Bleiben Sie noch eine Weile, es können Nachkrämpfe kommen. Aber es kamen keine Nachkrämpfe mehr. Die Chefsekretärin öffnete Herrn Riedinger das Hemd und die Hose. Ich setzte mich auf einen Stuhl und betrachtete Herrn Riedingers Gesicht. Zum ersten Mal sah ich, was das ist: Totenstarre, Leichenblässe, Lippenbläue. Herr Riedinger war nicht tot, er war nur total erschöpft und schlief ein. Die Kontoristin fuhr mit dem Handrücken zweimal über Herrn Riedingers Gesicht. Um seinen jetzt reglosen Körper herum bildete sich eine Art Schlafwache, bestehend aus vier Angestellten, zwei Lehrlingen und dem Exportchef. Nach etwa zehn Minuten Schlafwache stöhnte Herr Riedinger. Er verlangte Wasser. Von mir aus hätte die Schlafwache eine ganze Stunde dauern können. Es war schön, dem Kleinlautwerden der Lebenden in der Nähe eines todähnlichen Körpers zu lauschen. Herr Riedinger zog die Knie an und richtete sich auf. Er entschuldigte sich und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Einige Stunden später, kurz vor Feierabend, erschien er mit einer Flasche Sekt in der Registratur und bedankte sich bei mir. Frau Kiefer erhob sich respektvoll. Sie hatte von meinem Eingreifen schon in der Mittagspause gehört. Als wir wieder allein waren, sagte sie: Ich hoffe immer, daß ich nicht in der Nähe bin, wenn Herr Riedinger umfällt.
Sie würden genauso helfen wie die anderen auch, sagte ich.
Da täuschen Sie sich, sagte Frau Kiefer, ich würde ebenfalls umfallen, vor Schreck, und zwar ganz schnell.
Wir lachten.
Drei Feierabende später mußte ich mich beeilen. Ich besuchte für den Tagesanzeiger eine Pressekonferenz, die um 18.00 Uhr angesetzt war. Ich freute mich auf den Termin, weil er im größten und feinsten Hotel der Stadt arrangiert war, und zwar im Salon »Orléans«, den ich von einer früheren Pressekonferenz schon kannte. Eingeladen hatte der Chef des Italienischen Fremdenverkehrsamtes in Deutschland; er sollte über Italien als Urlaubsland sprechen. Als ich eintraf, zeigte sich, daß meine Eile nicht nötig gewesen war. Der Chef des Fremdenverkehrsamtes, Dr. Gianluca Alessio, war noch nicht da. Drei Damen liefen umher und entschuldigten seine Verspätung. Zwei andere Damen servierten auf kleinen Tabletts italienischen Sekt und italienischen Orangensaft. Es machte mir Vergnügen, über die hellblauen Teppiche zu gehen und mich in der Nähe des sanften Lichts der Wandleuchten aufzuhalten. Sieben Kollegen von der Lokalpresse waren anwesend, unter ihnen Linda. Wir nickten uns zu und flüsterten im Aneinandervorbeigehen undeutliche Sätze. Zwei Tische waren eingedeckt, die Kellner standen bereit. Auf den weißen Damasttischdecken standen große Blumenvasen mit üppigen gelben Blumen, deren Namen ich nicht wußte. Spuren gelben Blütenstaubs fielen auf die Tischdecke herab. Ein Saalkellner geleitete zwei weitere Journalisten in den Raum. Linda trug ein schulterfreies, dunkelrotes Samtkleid, das sehr gut in den Salon paßte. Ich sah, daß ihre linke Schulter ein wenig tiefer lag als die rechte. Eine sanfte Peinlichkeit breitete sich aus. Dr. Alessio wird sicher gleich dasein, sagten die Damen und verschenkten Kugelschreiber und kleine Landkarten italienischer Feriengebiete. Die Journalisten schlenderten trinkend und feixend umher, einige schauten schon auf die Uhr. Die Damen bemühten sich nicht länger, ihre Nervosität zu verheimlichen. Linda und ich blieben neben einer Anrichte stehen und redeten dort weiter, wo wir vor ein paar Tagen aufgehört hatten.
Schreiben ist eine Bewegung, die uns mit dem Schmerz vertraut machen möchte, sagte Linda.
Ist es nicht umgekehrt? fragte ich; verwandelt der, der schreibt, nicht die Unübersichtlichkeit des Lebens, das heißt seinen Schmerz, in die Übersichtlichkeit eines Textes?
Das ist eine Illusion, sagte Linda.
Können Sie es etwas
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