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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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morgen veranstaltet hatte. Wie immer blieb ich am Rand von Herrdegens Schreibtisch stehen und wartete, bis er meinen Text gelesen hatte. Dann fragte er, ob ich Zeit hätte, im Juli für den Redakteur Wettengel eine Urlaubsvertretung zu machen. Ich fuhr mir mit Daumen und Zeigefinger die Nase entlang und sah auf den Boden.
    Wettengel meint, daß Sie das könnten, und ich meine es ebenfalls, sagte Herrdegen.
    Ich habe noch nie in einer Redaktion gearbeitet, sagte ich.
    Das lernen Sie schnell, sagte Herrdegen, Sie haben ja schon damit angefangen.
    Wie lange dauert die Vertretung?
    Die ersten drei Wochen im Juli, beginnend mit dem 2. Juli, das ist ein Montag, sagte Herrdegen.
    Wann beginnt morgens die Arbeit?
    Sie müßten morgens um zehn Uhr erscheinen und täglich drei Seiten füllen. Und den einen oder anderen Termin wahrnehmen, das ist klar.
    Bin ich die ganze Zeit allein?
    Ich bin da, sagte Herrdegen, Sie können mich jederzeit fragen.
    Und was müßte ich genau tun?
    Sie müßten die Artikel der anderen Mitarbeiter redigieren, und Sie müssen für jeden Artikel eine Überschrift und eine Unterzeile machen und die Artikel in Satz geben, sagte Herrdegen; Sie müßten für jede Seite einen Seitenspiegel machen und am Abend etwa eine Stunde lang in der Setzerei beim Umbruch dabeisein, falls ein Artikel gekürzt oder umgestellt werden muß oder sonst etwas passiert.
    Ich gab mit dem Mund ein paar undeutliche Geräusche von mir.
    Sie können schon vorher stundenweise aushelfen, sagte Herrdegen, damit Sie sich bis zum 2. Juli sicher fühlen.
    Ich darf mir das überlegen?
    Klar, sagte Herrdegen; aber in einer Woche sollten Sie mir Bescheid geben.
    Ich freute mich und verabschiedete mich von Herrdegen. Das Wetter war mild, junge Leute trugen ihre Kofferradios spazieren. Ich war mit Gudrun verabredet, wir wollten an diesem Sonntagnachmittag einen kleinen Ausflug mit dem Vergnügungsdampfer machen. Herrdegens Angebot erregte mich. Ich wollte richtig überlegen, ob ich es annehmen sollte oder nicht, aber mir fiel auf, daß ich es bereits angenommen hatte. Ich blieb vor dem Schaufenster eines Blumenladens stehen und zählte zum dritten Mal die Tulpen in einer Vase. Es waren fünf gelbe und vier rote Tulpen, und obwohl sie in ihrer aufgeblühten Farbigkeit verschwenderisch wirkten, sahen sie gleichzeitig ärmlich aus. Das dichte Beieinander von Üppigkeit und Armut interessierte mich, aber ich kam nicht auf den Grund des Widerspruchs. Im Schaufenster eines Tabakwarenladens sah ich eine ehemals weiße, jetzt bräunlich gewordene Steckdose, darin einen Stecker mit schwarz herunterhängendem Kabel, das sich am Boden entlangschlängelnd im hinteren Teil des Ladens verlor. An Werktagen machte es mir Vergnügen, den Menschen dabei zuzuschauen, wie sie nachmittags ganz allmählich in ihre Eigentümlichkeit hineinfanden. Ein übergroßes Maß von öffentlicher Leblosigkeit machte dieses Vergnügen an Sonntagen unmöglich. In den Cafés saßen alte Leute oder tote Paare. Die Frauen schoben mit kleinen Gabeln die Krümel in die Mitte ihrer Kuchenteller, die Männer schauten heimlich zur Tür. Ich fühlte den Drang, ihre Erbarmungswürdigkeit sofort einzudämmen, obgleich mir dazu alle Mittel fehlten. Zum Glück war es nicht mehr weit bis zur Anlegestelle der Ausflugsdampfer. Von der Uferpromenade aus sah ich Gudrun neben einem Kassenhäuschen warten. Sie trug eine beigefarbene Bluse und einen bunten Sommerrock. An ihrem weißen Arm hing eine weiße Handtasche. Sie schaute ein paar Jugendlichen zu, die Federball spielten, das erst in diesem Sommer neu auf den Markt gekommen war und sich rasch durchgesetzt hatte. Das Schiff war mit Ausflüglern fast schon überfüllt. Offenbar waren die Leute dankbar, daß es an Sonntagen wenigstens Schiffsausflüge gab. Gudrun entdeckte mich und winkte mir zu, ich winkte zurück und beeilte mich. Gudrun hatte bereits zwei Fahrkarten gekauft, wir betraten den Landungssteg und fanden auf dem hinteren Deck zwei freie Plätze. Rings um uns hob und senkte sich allgemeines Stimmengewirr und brachte ein wenig Ferienlaune hervor. Beinahe hätte ich dich angerufen und gefragt, ob ich meine Freundin mitbringen darf, sagte Gudrun.
    Und? Was hat dich davon abgehalten?
    Sie hätte uns vielleicht den Sonntag verdorben.
    Oh! machte ich; ist sie so launisch?
    Sie hat gerade ihre Verlobung gelöst und findet jetzt, sie hätte voreilig gehandelt, sagte Gudrun.
    Zwei Arbeiter lösten die Taue. Mit einer plötzlich

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