Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
genauer sagen?
Die Illusion der Klarheit kommt zustande, sagte Linda, weil der Text immer deutlicher ist als das Leben dessen, der ihn geschrieben hat. Der Text ist sogar klarer als das Leben jedes beliebigen Lesers. Darin liegt die fürchterliche Verlockung der Literatur; das Leben soll endlich dem Text folgen, es soll sich in Klarheit verwandeln.
Aber die Leser spielen doch keine Rolle, sagte ich; oder denken Sie beim Schreiben an den Leser?
Nein, sagte Linda.
Sehen Sie, sagte ich.
Aber daraus sollte man keine falschen Schlüsse ziehen, sagte Linda; jeder Text wendet sich, indem er geschrieben wird, zurück an seinen Verfasser, um ihm den Schmerz zu erklären, der zu seiner Entstehung geführt hat.
Und die Leser? Welche Rolle spielen sie?
Der Leser möchte ebenfalls die Schmerzen erklärt kriegen, sagte Linda; deswegen verstärkt der Leser die Bewunderung.
Welche Bewunderung?
Die Bewunderung dafür, sagte Linda, daß Menschen, also die unklarsten Lebewesen, die überhaupt existieren, etwas so Klares wie Texte zustande bringen.
Linda redete, ich redete. Wieder beeindruckte mich, was sie über das Schreiben und die Literatur sagte. Noch immer war der Dottore nicht eingetroffen. Die Damen schauten erregt und ängstlich zu den Fenstern hinaus. Es war nicht mehr ausgeschlossen, daß wir gleich nach Hause geschickt wurden. Linda rieb sich so heftig die Augen, daß ich die Quetschgeräusche der Augen im Augenwasser hören konnte. Plötzlich, in einem Moment verstörten Schauens, hatte ich eine schreckliche Vermutung: Der Seemann hatte Linda nach der Rückkehr aus New York doch überwältigt und war gegen ihren Willen ihr Freund geworden. Linda war nur aus Gründen der Liebesabschreckung in unsere Stadt geflohen. Aber die Flucht hatte ihr nichts genutzt. Der Seemann war ihr immer noch auf der Spur und klopfte vielleicht täglich an ihre Wohnungstür. Mit klein gewordenem Mund trank Linda aus ihrem Glas und sagte:
Die Einsamkeit des Werks wiederholt nur die Einsamkeit des Autors, die das Werk hatte auflösen sollen, verstehen Sie?
Ich verstehe schon, sagte ich, aber ich glaube es nicht.
Und nur deswegen, weil auch das Werk die Einsamkeit nicht vertreibt, entsteht dann auch noch die Literaturtheorie.
Ach, machte ich.
Niemand will Literaturtheorie, sagte Linda, glauben Sie mir; es gibt sie nur, weil wir so große Hoffnungen in die Literatur gesetzt haben und die Literatur diese Hoffnungen enttäuscht. Die Literaturtheorie ist ein einziger riesiger Kompensationsakt.
Sie vergessen, sagte ich, daß jedem Text eine Entfernung zugrunde liegt.
Eine Entfernung? Von wo nach wo?
Eine Entfernung des Autors von der Welt! Man kann auch sagen, sagte ich, das Schreiben ist ein Versuch, mit der Welt draußen einen phantastischen Kontakt aufzunehmen.
Absolute Illusion, sagte Linda.
Natürlich, sagte ich, aber die Illusion ist trotzdem wahr und wirklich.
Was? Die Illusion ist wahr und wirklich? Das verstehe ich nicht! rief Linda.
Erst danach, sagte ich, wenn der Kontakt mit der Außenwelt nicht gelungen ist, kehrt der Text wieder zu seinem Verfasser zurück. Aber deswegen darf nicht unterschlagen werden, daß die erste Bewegung des Textes immer nach draußen geht, zu den anderen.
Falsch, sagte Linda, der Text will von den anderen nichts wissen.
In diesen Augenblicken öffnete sich die Doppeltür. Ein gutaussehender Mann trat mit schnellen Schritten in den Raum. Die Damen sprangen auf und riefen fast gemeinschaftlich: Dr. Alessio! Dr. Alessio! Der Mann trug eine schwere Aktentasche und redete beim Gehen. Deutsche Autostrada! Deutsche Autostrada! sagte er. Die Journalisten nahmen Platz. Linda setzte sich neben mich. Sie fragte leise nach einem Detail meiner Literaturvorstellung, aber ich hatte schon vergessen, was ich vor zwei Minuten behauptet hatte. Dr. Alessio trat mit schwungvollen Bewegungen hinter das kleine Vortragspult und entschuldigte seine Verspätung. Dann sprach er über Ligurien, Umbrien und die Cinque Terre. Linda beugte sich über ihren Block und machte sich Notizen. Die dunklen Samtärmel ihres Kleides lagen wunderschön auf dem weißen Damast. Ich zitterte ein bißchen, weil ich über Lindas Leben so weitreichende Vermutungen angestellt hatte; sie verknüpften mich mit Linda mehr als ein direktes Geständnis.
Am letzten Sonntag im Mai, vierzehn Tage vor dem Betriebsausflug, machte mir Herrdegen ein Angebot. Ich brachte ihm am Nachmittag dreißig Zeilen über ein Kinderfest, das ein Zirkus am Sonntag
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