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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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verschweigt er, sagte Linda, daß das Leben auf See nur eine andere Hölle ist. Mir fiel auf, daß sie den letzten Satz im Präsens gesagt hatte. Daraus schloß ich, daß meine Vermutung zutreffend war. Linda und Hannes waren nach dem Ende der New-York-Reise doch noch ein Paar geworden. Aus dem größeren Zimmer drang Jazzmusik zu uns herüber. Linda trank Bier und klagte, daß es ihr bis jetzt nicht gelungen war, ihrem Chefredakteur die Probleme der Seeleute näherzubringen. Jede Woche drucken wir lange Riemen über die Sorgen der Landwirtschaft, sagte Linda, aber keinen Ton über die Seefahrt. Ich nickte. Plötzlich roch ich den halb bitteren, halb süßlichen Geruch eines Joints. Ein junger Mann, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte, gab eine zusammengedrückte Zigarette an seinen Nebenmann weiter. Linda hörte auf, von der Seefahrt zu sprechen, und hielt ihr Gesicht witternd in den Raum. Ich hatte noch nie gekifft. Eine undeutliche Angst hatte mich bisher davon abgehalten. Aus dem Flur hörte ich Schubes Stimme. Gerade rief er aus: Alles, was ein Lyriker braucht, sind Sicherheit und Melancholie! Ich überlegte, ob ich mich zu ihm stellen sollte. Noch immer schluckte er große Mengen Rotwein. Eine derartig starke Vorliebe für den Alkohol, dachte ich, schloß einen Joint vielleicht von selber aus. Deshalb würde es, wenn ich neben Schube stehen würde, gar nicht auffallen, wenn ich die kleine gelbe Zigarette an mir vorüberziehen ließe. Aber da war es schon zu spät. Der Joint war soeben an meinen Nebenmann zur Rechten übergegangen. Ich war mutlos und nahm zwei Züge. Der Geschmack war ekelhaft, ich schüttelte mich. Linda schaute mich an und wartete auf die Wirkung. Die Blicke der anderen waren teilweise schon glasig geworden. Eine junge Reiseredakteurin ließ den Kopf zurückfallen. Andere lehnten sich über das Sofa, stöhnten ein bißchen und fuhren sich mit den Händen durch das Haar. Linda nahm drei Züge und trank danach sofort eine halbe Flasche Bier. Auf der anderen Seite schickte Kaltenmeier einen neuen Joint in die Runde. Bei mir blieb jegliche Wirkung aus. Ich wunderte mich, hielt aber den Mund. Mit diesem Ergebnis war ich insgeheim einverstanden. Vermutlich war es die Stärke meines inneren Widerstands, die einen Rausch ausschloß. Ich stellte mich neben Schube und beobachtete, was mit den anderen geschah. Die Reiseredakteurin hatte sich zur Seite gelegt und war vielleicht schon eingeschlafen. Linda kiffte und trank. Kindsvogel saß in der Nähe des Schallplattenspielers und machte dazu dap-du-di-dap/dap-dap-du-didap/wap. Ich wollte nicht erklären müssen, warum die kleine gelbe Zigarette bei mir nicht wirkte. Ich öffnete die Toilettentür und sah eine junge Frau mit dem Gesicht über der Schüssel. Schube krittelte inzwischen an Baudelaire herum. Ich überlegte, ob ich nicht einfach verschwinden sollte, ohne Erklärung, ohne Getue, ohne Abschied. Ich hörte, wie sich die Frau in der Toilette übergab. Der Geruch des Erbrochenen drang auf den Flur hinaus. Ich ging in das größere Zimmer zurück und sah zufällig aus dem Fenster. Tief unten, auf der Straße, fuhr langsam eine gelb erleuchtete Straßenbahn vorüber. Wie vorgesehen kam sie an einer Haltestelle zum Stehen. Ich fing an, die Straßenbahn zu schildern, und zwar verdoppelt, als Bild im Bild, als eine Straßenbahn, die gerade in eine andere Straßenbahn hineinfuhr und dann wieder aus ihr heraus. Mit der verdoppelten Straßenbahn hatte ich sofort Erfolg. Ein paar Gäste stellten sich neben mich und warteten auf meine nächsten Sätze. Gleichzeitig sahen sie ebenfalls auf die Straße hinunter. Sie erkannten, daß es immer nur eine Straßenbahn gab, obgleich ich fortfuhr, von zwei oder gar mehreren Straßenbahnen zu reden. Die Straßenbahn fuhr weiter, ich redete, die gespielte Halluzination machte mich zur Hauptfigur. Ich tat ein wenig benommen, es gab keinen Zweifel, die anderen glaubten, ich sei bekifft. Meine verdoppelte Straßenbahn verwandelte sich in den lang erwarteten Beweis, daß es eine bewußtseinsverändernde Wirkung der Drogen wirklich und tatsächlich gab. Meine Schilderungen ähnelten denen, die ich vor ein paar Wochen in den Rauschgiftbüchern von Burroughs, Ginsberg und Kerouac gelesen hatte. Es war das erste Mal, daß mir die Literatur unmittelbar aus einer Patsche half. Ich war hier offenbar der einzige, der wirklich berauscht war, allerdings von der Literatur. Da kam schon die nächste Straßenbahn aus der

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