Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Cognac und Schnaps mit, andere setzten sich gleich in die Nähe der Bierkästen in die Küche. Als ich in das Wohnzimmer trat, sah ich Linda bei einem fülligen Mann stehen. Linda hatte eine Flasche Bier in der linken Hand, der beleibte Mann ein Glas Rotwein. Das ist Rolf Schube, sagte Linda mit hörbarer Genugtuung in der Stimme. Offenbar war sie stolz darauf, daß der Mann in ihrer Wohnung war. Linda hatte mir schon öfter von dem extrem reizbaren Lyriker Schube erzählt. Seine Empfindlichkeit erlaubte ihm gewöhnlich nicht das gleichzeitige Zusammensein mit mehr als drei Menschen. Schube hatte ein weiches und weißes Gesicht. In der linken Hand trug er ein zusammengefaltetes weißes Taschentuch, mit dem er sich von Zeit zu Zeit den Schweiß auf der Stirn und über der Oberlippe abtupfte. Von Linda wußte ich, daß Schube bei seiner Mutter lebte und deswegen keine Miete zahlen mußte. Er schrieb Musik- und Theaterkritiken, von Fall zu Fall auch über bildende Kunst und Kulturpolitik. Jetzt sprach Schube schneidige Sätze über Benn, Ezra Pound und Saint-John Perse, die gute Anlagen hatten, aber nicht zum Kern der modernen Existenz vorgedrungen seien, sagte Schube. Er ging dazu über, sich mit dem Taschentuch auch den Hals und den Nacken abzuwischen. Ich fürchtete, Schube könne mich für einen Lyriker halten oder mich gar fragen, in welche Traditionslinien ich mich selber einordnete. Deswegen war ich froh, als plötzlich, in Begleitung von Kaltenmeier, der Lokalreporter Hermann Kindsvogel in das Zimmer trat. Linda winkte die beiden herbei, woraufhin Schube verstummte. Kindsvogel war zwischen vierzig und fünfundvierzig und schlank. Er trug ein offenes Sakko, ein weißes Hemd und einen Seidenschal im Hemdausschnitt. Sein Haar war kurz geschnitten und um die Ohren herum angegraut. Kindsvogel war bei der sozialdemokratischen Allgemeinen Zeitung für Kommunalpolitik, Magistrat und Verwaltung zuständig. Viel stärker interessierte er sich für das Leben der europäischen Zigeuner. Jahr für Jahr fuhr er mit seinem Volkswagen nach Ste. Marie-de-la-Mer in die Provence, wo Zigeuner aus vielen Ländern zu einem großen Sippenfest zusammenkamen. Auf der Seite »Das aktuelle Thema« druckte die Allgemeine Zeitung ebenfalls Jahr für Jahr seine Reportage über das Zigeunerfest. Noch stärker identifizierte er sich mit dem Jazzmusiker Charlie Parker, über den er (das wußte ich von Linda) seit Jahren einen Roman schrieb. Linda fragte ihn: Was macht dein Roman? Und Kindsvogel antwortete: Ist in Urlaub! Die Allgemeine Zeitung will, daß ich mich um das Schicksal des Proletariats kümmere! Alle lachten. Solche Antworten machten Kindsvogel beliebt. Schube dagegen war ein in sich gekehrter Problembrüter, der mit einem Glas Rotwein allein blieb. Wahrscheinlich würde er bald gehen, weil ihm die Atmosphäre zu unlyrisch war. Die Art, wie Schube sich als abseits stehender Künstler darstellte, machte mir Beklemmungen. Ohnehin hegte ich Mißtrauen gegen alle, die irgendetwas beteuerten oder betonten. Ich fürchtete, Kindsvogel könnte mich fragen, an welchem Roman ich arbeitete. Ich stellte mich an das Fenster und beobachtete einen Mann, der in einer gegenüberliegenden Wohnung ein Geschirrtuch ausfaltete und es dann sorgfältig über einen Vogelkäfig breitete. Eine mir unbekannte Fotografin sagte hinter mir: Wir Frauen sind doch viel humaner! Wir streicheln sogar liebevoll eine Glatze! Mir gefielen die leicht hin- und herwankenden Baumkronen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Linda winkte mich in das kleinere Nebenzimmer. Hier saßen nur ein paar Leute mit ausgestreckten Beinen auf dem Fußboden. Wir setzten uns neben sie. Beim Niedersinken der Körper streifte mich Lindas schmächtige Hüfte. Linda redete eine Weile über die Unmöglichkeit, in einer deutschen Industriestadt eine Boheme aufzubauen. Eine Frau sagte: Der erste Mann, den eine Frau nach ihrer Scheidung kennenlernt, ist immer eine Katastrophe. Plötzlich beklagte Linda, daß sich kein Mensch für die Ausbeutung der Seeleute interessierte. Wer auf See arbeitet, sagte sie, ist praktisch aus der Wirklichkeit verschwunden. Deswegen gibt es so viele Verrückte und Verlorene unter den Seeleuten. Die Reedereien wissen das und machen mit den armen Teufeln, was sie wollen. Ich verstand nichts von der Seefahrt und nickte nur. Hannes, sagte Linda, das ist der Seemann, der mich in New York verfolgt hat, Hannes sagte immer: Das Leben an Land ist die Hölle. Allerdings
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