Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
hieß es, sei der Betriebsausflug offiziell beendet. Wer schon früher nach Hause wollte, sollte einen der beiden 22.00-Uhr-Busse nehmen. Die meisten blieben aber doch bis 23.00 Uhr, auch Frau Kiefer und ich. Wir sahen dabei zu, wie die Musiker ihre Instrumente einpackten und auch dabei Bier tranken. Nicht verzehrte Rippchen verstauten sie in den Leerräumen ihrer Instrumentenkoffer. Frau Kiefer stieg vor mir in den Bus. Ich folgte ihr und setzte mich auf einer der letzten Bänke neben sie. Hinter uns lag nur Hannemann mit seinem Kopfverband und schlief. Frau Hannemann saß eine Bank vor ihm in der gegenüberliegenden Sitzreihe. Herr Schäfer öffnete seine Aktentasche und gab Frau Hannemann im Halbdunkel ein Stück Frankfurter Kranz. Frau Hannemann schaute sich nach ihrem Mann um und nahm das Tortenstück. Wenig später fuhr der Bus an nachtschwarzen Weinbergen vorbei und durch kaum beleuchtete Ortschaften hindurch. Auch im Bus war es dunkel. Die meisten Angestellten und Arbeiter schliefen und schnarchten. Einmal hielt der Busfahrer, weil ein Arbeiter aussteigen und sich übergeben mußte. Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, wenn ich den Bus beziehungsweise Frau Kiefer unter dem Vorwand plötzlicher Übelkeit verlassen und dann fliehen würde. Aber wie sollte ich kurz vor Mitternacht von hier aus nach Hause finden? Für Überlegungen jeder Art war es ohnehin zu spät. Ich war über Frau Kiefer gebeugt und küßte ihren magnolienartig aufgeblühten Busen. Ihre Körperlichkeit verwirrte mich, aber nicht sehr. Ich wunderte mich, daß die Annäherung an Frau Kiefer fast von selbst ablief. Die von mir viel mehr gewünschte Vertrautheit mit Linda war bis jetzt keinen Millimeter vorangekommen. Frau Kiefer öffnete mir das Hemd, dabei fiel ihre Handtasche zu Boden. Ich bückte mich nach vorne, um sie wieder aufzuheben, Frau Kiefer jedoch verstärkte den Druck ihres Armes und hielt mich davon ab. Der Bus war jetzt zu einem fahrenden Schlafsaal geworden. Auch Frau Kiefer und ich schliefen zwischendurch immer wieder ein. Wenn der Bus plötzlich ruckelte oder bremsen mußte, schreckten wir auf und setzten unsere Berührungen fort. Die Beliebigkeit der Intimität irritierte mich. Ich hatte mir immer vorgestellt, es gebe zwischen Paaren ein besser geregeltes Eintauchen in die Liebesheftigkeit. Einmal, als das Neonlicht einer Straßenlampe in den Bus fiel, fand ich das weiße Gesicht von Frau Kiefer zu altmodisch. Es war mir bis jetzt nicht geglückt, meinen Körper zwischen den geöffneten Beinen von Frau Kiefer in Stellung zu bringen, obgleich Frau Kiefer ihren Rock schon weit genug nach oben geschoben hatte. Im dauernden Schaukeln und Schwanken des Busses fiel ich immer wieder zur Seite oder auf meinen Platz zurück. Frau Kiefer roch frisch nach Fischen und Pilzen. Der Duft war so stark, daß ich argwöhnte, er hätte uns schon verraten. Ich schaute kurz über die Sitzbänke und vergewisserte mich, daß es ringsum keine heimlichen Beobachter gab. Obwohl Frau Kiefer mich immer wieder anfaßte, war ich nicht sicher, ob sie nicht wieder schlief. Gleichzeitig gefiel mir die Vorstellung, daß sie aus einem Traum nach mir griff. Ich sah auf ihre geschlossenen Augen und dachte: Du mußt sie in Ruhe lassen. Schon drei Sekunden später korrigierte ich mich: Jetzt kannst du es probieren. Wenn es nicht klappt, wird sie es nicht einmal merken. Ich war nicht sicher, ob Frau Kiefer den Beischlaf wollte oder ob sie ihn mir nur erlaubte. Es störte mich, daß ich die Handtasche auf dem Boden hin- und herrutschen hörte. Immer noch hoffte ich, im Schaukeln des Busses werde sich meine Unbeholfenheit als Schüchternheit darstellen und die Schüchternheit werde mich liebenswert erscheinen lassen. An einer belebten Kreuzung blieb der Bus fünfzehn Sekunden lang stehen. Das Licht einer Bogenlampe erinnerte mich an die Zeit, als ich als Kind anfing, sonntags nachmittags ins Kino zu gehen. Sehr gut gefielen mir damals die beiden Notausgänge links und rechts der Sitzreihen. Es waren zwei schmale, von dunklen Samtvorhängen verdeckte Türen, über denen je ein Kasten mit der Leuchtschrift NOTAUSGANG angebracht war. Ich stellte mir Deckeneinstürze, Feuersbrünste und Massenpaniken vor, und ich achtete darauf, daß ich stets in der Nähe eines Notausgangs zu sitzen kam. Jetzt starrte ich auf schwärzliche Kartoffeläcker und eingeknickte Maisstauden und wünschte mir wieder einen Kasten mit der Aufschrift NOTAUSGANG herbei. Unter dem Eindruck
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