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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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hochtourigen Bewegung des Motors löste sich das Schiff vom Kai. Gudrun sah über den Fluß und redete über ihre Freundin. Ich betrachtete die Möwen, die über den Köpfen der Passagiere mitflogen. Kinder warfen Brotstücke in die Höhe, die von den Möwen im Flug aufgeschnappt wurden. Das Schiff tuckerte jetzt ruhig dahin. Alle Ausflügler hatten ihre Plätze gefunden. Nur Kinder sprangen auf dem Deck umher, knabberten an kleinen Salzbrezeln oder leckten ein Eis. In der heutigen Sonntagsausgabe meines Großvortrags wollte ich darüber reden, warum Hans Fallada in fremde Kassen griff und deswegen ins Gefängnis mußte, warum Joseph Roth im Alter ein Alkoholiker wurde und warum Georg Trakl nicht ohne Drogen überleben konnte und dann doch an ihnen starb. Aber Gudrun hörte mir nicht recht oder überhaupt nicht zu. Vielleicht hatte sie meine Großvorträge auch satt und wußte nicht, wie sie es mir sagen sollte. Ich empfand Schmerz darüber, daß sich das Leben nicht selbst erklärte. Daß ich mit Gudrun nicht über Herrdegens Angebot sprach, empfand ich selbst als leichte Feindseligkeit, gegen die ich jedoch machtlos war. Widerwillig gestand ich mir ein, daß ich oft nicht wußte, worüber ich mit Gudrun reden sollte. Allerdings war ich damals der Ansicht, daß sich ohnehin kein Mensch ein ganzes Leben lang für einen anderen Menschen interessieren konnte. Bei den meisten, zu denen Gudrun vielleicht gehörte, gelang nicht einmal ein Anfangsinteresse. Unglücklicherweise machte Gudrun in diesen Augenblicken einen Vorschlag, mit dem ich überhaupt nicht zurechtkam. Sie sagte, wir könnten doch zusammen einen Tanzkurs belegen. Sie wußte sogar eine Tanzschule, die auch Abendkurse für Berufstätige veranstaltete, dienstags und freitags von 18.00 bis 20.30 Uhr. Natürlich sah ich in einem solchen Tanzkurs eine Bedrohung meiner abendlichen Reportertätigkeit. Dann stellte sich auch noch ein Mißverständnis heraus. Ich hatte verstanden, wir sollten zusammen zum Tanzen gehen. Tatsächlich meinte Gudrun, ich sollte ohne sie einen Kurs buchen, weil sie schon lange tanzen konnte. Das war eindeutig zuviel verlangt. Der Abendreporter, dem gerade die Urlaubsvertretung eines Redakteurs angeboten worden war, sollte sich mit pickligen Jugendlichen zusammentun, um das allgemeine Herumhopsen zu lernen. Unaussprechlich lächerlich! Ich mußte mir Mühe geben, meinen Unmut zu zügeln. Ich versuchte, mit ein paar langen Blicken auf das Wasser meine Seele zu beschwichtigen, damit sie wieder weich und verhandlungsfähig wurde. Sie blieb jedoch hart und störrisch, weshalb ich es mit ein paar ebenso langen Blicken in den Himmel probierte. Ich schaute etwas blöde den Möwen nach und wunderte mich, daß in beiden Worten (blöde Möwen) ein ö der wichtigste Laut war. Gleichzeitig fiel mir auf, daß viele andere Personen auf dem Schiff ebenfalls nach den Möwen schauten, durchaus mit blöden Gesichtsausdrücken. Wurde überhaupt soviel, so oft und so lange nach Möwen geschaut, weil die Menschen in blöden Situationen waren und nicht recht weiterwußten? Genau in diesem Augenblick rettete uns eine einzelne, herabstürzende Möwe. Der Vogel stieß aus einer Höhe von etwa vier Metern mit geöffnetem Schnabel und einem scharfen Schrei in das Vanilleeis eines Kindes herab und trug den kleinen Eisbatzen samt Waffel hoch in die Lüfte. Die Leute rings um das Kind schrien auf und erhoben sich. Das beraubte Kind begann zu weinen, seine Mutter eilte herbei und schloß es in die Arme; sie erbot sich, dem Kind ein neues Eis zu kaufen, aber das Kind lehnte schreiend ab. Andere eisessende Kinder wollten wenigstens eine Eiskugel spendieren, aber auch diese Angebote wehrte das Kind ab. Gudrun sagte immer wieder: Nein! Diese Möwen! Nein! Diese Möwen! Ringsum erzählten sich die Leute jetzt Anekdoten über freche Tiere. Gudrun sagte, daß sie einmal während eines Urlaubs an einem Seeufer gestanden und dabei von einem Hund angepinkelt worden sei. Langsam beruhigte sich das erschrockene Kind. Es lag in den Armen seiner Mutter und seufzte. Manchmal blickte es hoch in den Himmel. Es war jetzt selber in den Kreis derer eingetreten, die blöde, wortlos und mit offenem Mund den Möwen nachschauten.
     

3
     
    Eine Party sei eigentlich nicht geplant gewesen, sagte mir Linda später. Sie hatte mich nur bekannt machen wollen mit ein paar Leuten, die für mich wichtig seien. Aber dann kamen immer mehr Kollegen in ihre kleine Dachwohnung. Einige brachten Wein,

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