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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Gegenrichtung. Diesmal hob ich in meiner Schilderung mehr auf die Farben ab. Das Gelb des Lichts ging über in das Orange des (nicht vorhandenen) Sonnenuntergangs, das Orange verfloß in das Tiefseegrün eines ebenfalls nicht vorhandenen Meeres und das Tiefseegrün wandelte sich in das Blaugelb eines vorüberflatternden Papageienschwarms. Siehst du auch Ringe und Spiralen? fragte jemand. Ich schaute vage umher und reagierte natürlich nicht mehr auf Fragen, schließlich befand ich mich in einem Rausch.
    An einem Dienstagmorgen füllte ich meinen Urlaubszettel aus und übergab ihn der Sekretärin des Personalchefs. Ich nahm genau die drei Wochen, die ich für die Urlaubsvertretung beim Tagesanzeiger brauchte. In der Woche davor hatte ich Herrdegen Bescheid gesagt, und er hatte sich gefreut. Er bot mir für die drei Wochen ein Pauschalhonorar an, das ich sofort akzeptierte. Danach fühlte ich mich sorglos. Ich wollte nach Hause gehen oder mich an das Flußufer setzen, aber ich mußte zurück in die Lehrfirma. Unterwegs sah ich eine vergnügte Frau, die auf dem Fahrrad fuhr und dabei Pralinen aß. Beim Vorüberfahren hielt sie mir eine Praline hin und lachte dabei. Wenig später kaufte ich mir selbst eine Schachtel Pralinen und aß sie auf dem Weg zur Spedition leer. Der Prokurist sagte, daß er mich, wenn ich aus dem Urlaub zurück wäre, in den Kraftfahrerdienst »stecken« müsse. Ich hielt diese Ankündigung nur aus, weil ich kurz zuvor eine Urlaubsvertretung als Hilfsredakteur übernommen hatte. Das Doppelspiel zwischen Spedition und Tagesanzeiger machte mir zwar immer noch Vergnügen, aber ich mußte erkennen, daß es mich außerdem Kraft kostete. Wieder beruhigte mich die Überlegung, daß ich über den Prokuristen früher oder später schreiben würde. Ich merkte mir, wie er redete, wie er sich bewegte und wie er angezogen war. Er trug eine schwarze Hornbrille, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren weit verbreitet waren. Aber er trug außerdem eine Strickweste ohne Ärmel. Quer über die Brust zogen sich grüne und blaue Muster hin. Es fiel ihm nicht auf, daß die lachhafte Strickweste und die Hornbrille nicht zusammenpaßten. Ich konnte sogar sehen, daß der Prokurist um die Oberarme herum fingerbreite Gummibänder trug, die die überlangen Hemdsärmel zu den Schultern hin wegstauten. Hornbrille, Strickweste und Gummibänder! Allein die Worte machten den Mann lächerlich. Zehn Tage später vervollständigte ich meine Beobachtungen des Prokuristen. Pünktlich um 7.00 Uhr begann an diesem Tag der Betriebsausflug. In fünf Bussen wurde die gesamte Belegschaft in ein hundertundfünfzig Kilometer entferntes Weindorf transportiert. Der Prokurist trug einen sandfarbenen Sommeranzug, in dem er zwar unelegant, aber doch behende über einen Tanzboden glitt. Immer wieder forderte er Arbeiterehefrauen zum Tanz auf, was ihm allgemeine Bewunderung eintrug. Die Arbeiter nannten den Prokuristen und den Geschäftsführer »die Prominenz«. Auch der Geschäftsführer verbeugte sich demonstrativ vor den Frauen der Arbeiter und holte sie zum Tanzen ab. Hinterher sagten die Arbeiter zu ihren Frauen, du hast ja mit der Prominenz getanzt, und es war nicht klar, ob diese Bemerkung höhnisch oder bewundernd gemeint war. Zum ersten Mal sah ich Arbeiter und Angestellte in einem Raum. Obwohl es keine Sitzordnung gab, hatten sich die Arbeiter auf die linke und die Angestellten auf die rechte Seite des Saals verteilt. Ich war mit beiden Gruppen vertraut und wußte nicht sofort, auf welcher Seite ich mir einen Platz suchen sollte. Unter den Lehrlingen bildeten sich rasch neue Paare. Die Jungen und Mädchen waren fast ausschließlich mit ihrer gegenseitigen Umkreisung und Eingatterung beschäftigt. Herr Riedinger, der Epileptiker, hob das Glas und nickte mir freundschaftlich zu. Im Grunde fühlte ich mich mehr zu den Arbeitern hingezogen, aber die von ihnen hervorgebrachten Bilder stießen mich dann doch wieder ab. Es störte mich, daß sie auch an diesem Tag das Bier aus Flaschen tranken. Jeder Arbeiter hätte sich ein Glas bestellen können, aber sie fanden Gläser überflüssig, oder sie genierten sich, vor den anderen Arbeitern ein Glas in die Hand zu nehmen. Stattdessen stellten sie die leer getrunkenen Bierflaschen in der Mitte ihrer Tische zusammen. Wie kleine braune Glasmauern trennten die zusammengeschobenen Flaschen die Arbeiter an den Tischen. Die Arbeiter fanden es sogar lustig, über die Mündungen der Glasmauern hinweg

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