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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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miteinander zu sprechen. Die Flaschen waren längst, von den Arbeitern unbemerkt, zu einem Eingeständnis geworden. Jedesmal, wenn ein Arbeiter trank, sagte die Flasche in seiner Hand: Wir beide, du und ich, fürchten uns vor den Labyrinthen der Verfeinerung, wir bleiben bei den Vorteilen der Einfachheit. Dieses fortlaufend hervorgebrachte Geständnis machte Eindruck auf mich. Ich hätte mich beinahe an den Tisch mit Lagerarbeitern gesetzt (einige der Männer winkten mir schon zu), aber dann schreckte ich im letzten Augenblick doch wieder davor zurück. Der Gabelstaplerfahrer Hannemann, neben den ich mich setzen wollte, steckte sich ein Würstchen in den Mund. Er kaute und rief mir gleichzeitig ein paar Wortstummel entgegen. Das Ineinander von Worten, Würstchen und Zunge ließ mich kurz vor seinem Tisch doch wieder abbiegen und zu den Angestellten hinübergehen.
    Ich entdeckte Frau Kiefer, die mit den Exportleuten an einem Tisch saß, wenngleich von diesen ein wenig abgetrennt. Frau Kiefer trug ein leichtes Sommerkleid mit weitem Rock und tiefem Ausschnitt, weiße Pumps und eine flache, kastenförmige Handtasche. Ich glaube, es war ein Haarklämmerchen über ihrer Stirn, das mich rührte und lockte. Die Angestellten steckten in dunkelblauen, dunkelbraunen und dunkelgrünen Anzügen. Sie erzählten sich Anekdoten über andere Angestellte und tranken Bier und Wein aus Gläsern. Ich setzte mich an die Seite von Frau Kiefer, die mir ein Sträußchen mit Feldblumen zeigte, das sie während eines kleinen Spaziergangs mit Herrn Schäfer gepflückt hatte. Jetzt lagen die Blumen ausgedorrt auf dem weißen Tischtuch neben der kleinen Silberschale mit den Salzbrezeln. Ich ging zur Theke und ließ mir ein Glas Leitungswasser geben, in das ich die Feldblumen hineinstellte. Sonnenlicht fiel in unsere Weingläser und auf den Ehering von Frau Kiefer. Die Drei-Mann-Kapelle spielte jetzt die neuesten Schlager. Mit leiser Stimme erzählte mir Frau Kiefer von ihrem Kind. Wir neigten unsere Köpfe nach vorne, manchmal berührten sich unsere Gesichter. Darüber erschraken wir nicht, wir zogen auch nicht unsere Gesichter zurück. Nach einer Weile stellten sich der Bassist und der Akkordeonspieler an die Theke. Der zurückgebliebene Schlagzeuger ergriff das Mikrofon und betätigte sich jetzt als Quatschmacher und Stimmenimitator. Er ahmte Adenauer, Ulbricht und ein Autorennen nach und hatte damit großen Erfolg. Frau Kiefer vergaß ihre Kinderanekdoten und lachte stark über den herumzappelnden Schlagzeuger. Am späteren Nachmittag sangen die Sackkarrenfahrer. Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, dröhnte jetzt durch den Saal. Ich tanzte mit Frau Kiefer. Wir fühlten uns durch den Stimmungslärm beschwingt und bestärkt. Jedesmal, wenn ich mich mit dem Kopf ein wenig über sie beugte, roch ich Hoffmanns Stärkepuder , das auch meine Mutter beim Bügeln in ihre Blusen einpulverte. Kurz vor dem Abendessen kippten die ersten Arbeiter um. Sie wurden von ihren routiniert zupackenden Ehefrauen in die Busse geschleppt und dort abgelegt. Die Frauen kehrten nach kurzer Zeit zurück und setzten sich wieder an die Tische. Der Gabelstaplerfahrer Hannemann fiel von seinem Stuhl herunter und schlug mit dem Kopf gegen einen Heizkörper. Ich staunte über den Prokuristen, der sofort den örtlichen Samariterbund anrief und dann selbst bei der Behandlung von Hannemanns Kopfwunde mithalf. Die beiden Samariter legten Hannemann auf eine Bahre und trugen auch ihn in einen der Busse. Die Musiker spielten jetzt nicht mehr so sorgfältig, dafür aber ununterbrochen. Nicht einmal mehr zum Biertrinken verließen sie die Bühne. Die Serviererinnen stellten laufend neue volle Bierflaschen neben ihren Notenständern ab. Auch um ihre Beine herum hatten sich inzwischen braune Glasmauern gebildet. Zwischendurch verließen Frau Kiefer und ich den Saal und versuchten einen Spaziergang über eine Wiese. Aber wir kamen nicht weit, das Gras war uns zu hoch. Mit jedem Schritt scheuchten wir eine große Zahl von Mücken und Insekten auf, vor denen sich Frau Kiefer ekelte. Nach drei Minuten kehrten wir in den Saal zurück. Der Prokurist trat hinter das Mikrofon und sagte, daß die übriggebliebenen Sauerbraten, Rippchen, Schnitzel und Torten von den Betriebsangehörigen mit nach Hause genommen werden durften. Herr Striefler aus der Buchhaltung ging zur Theke und sagte zu der Frau hinter dem Zapfhahn: Tun Sie mir bitte fünf Schnitzel in die Satteltaschen. Um 23.00 Uhr,

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