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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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meiner Unentschiedenheit hatte Frau Kiefer begonnen, ihre Beine wieder zu schließen. Ein wenig später, als der Bus über die Kreuzung rumpelte, rettete mich ein leichter Landregen. Zuerst störte mich das Wasser, das rings am Bus herunterrann, aber dann ging mir auf, daß niederrieselnde Feuchtigkeit ein Geräusch der Sexualität war. Es gelang mir, mich an dem Haltegriff hochzuziehen, der in Höhe von Frau Kiefers Schultern ihren Sitz abrundete. Frau Kiefers Körper verstand sofort. Die Beine öffneten sich wieder, und Frau Kiefer rutschte mit dem Hinterteil ein Stück nach vorne. Sie lag jetzt mit dem Rücken auf der Sitzfläche, die mächtigen Beine geöffnet und seitlich abgeknickt. Sie sah jetzt aus wie ein nach hinten gestürztes weißes Lamm. Das Bild gefiel mir, aber ich wollte es trotzdem nicht anschauen. Als der Bus eine dunkle Landstraße entlangfuhr, drang ich in Frau Kiefer ein und war augenblicklich hingerissen von der Entdeckung, daß der Innenkörper von Frau Kiefer noch erheblich weicher und samtener war als ihr Außenkörper. Die Überraschung wirkte so stark, daß mir ein paar Tränen hochschossen. Endlich war es mir egal, ob Frau Kiefer schlief oder nicht. Ich stieß in diese uferlose Weichheit und blickte von oben auf den schräg hinter uns liegenden Hannemann. Er schlief fest, das Blut an seinem Kopfverband war eingetrocknet.

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    Das Verlagshaus des Tagesanzeigers war ein schmaler, zweigeschossiger Bau, der den Krieg unbeschadet überlebt hatte. Alle Redaktionen waren im ersten Stock untergebracht. Alle Böden waren noch mit Holzbohlen ausgelegt. Herrdegen führte mich herum und stellte mich vor. Je zwei Redakteure saßen im Sport, in der Wirtschaft und im Feuilleton. Die Sozial- und die Leserbriefredaktion war mit je einem Redakteur besetzt. Der Mann in der Sozialredaktion hatte im Krieg die linke Hand verloren. Anstelle der Hand trug er eine handähnliche Prothese aus Leder, die er in seinem Ärmel zu verbergen suchte. Von Herrdegen wußte ich, daß der Sozialredakteur seit Jahren an einem Familienepos arbeitete, von dem er bis jetzt vier Bände fertiggestellt hatte, die er jedoch niemandem zeigte. Nur in der Lokalredaktion und in der Politik arbeiteten je vier Redakteure. In der Politik sagte Herrdegen, hier ist unser neuer Chefredakteur. Niemand lachte, auch ich nicht. Ich arbeitete nicht an Wettengels Schreibtisch, sondern an einem kleineren, einfachen Holztisch in der Nähe des Fensters. Meine erste Arbeit galt dem Polizeibericht. Er wurde jeden Tag gegen 11.00 Uhr von einem Beamten des Polizeipräsidiums im Sekretariat abgegeben. Der Bericht faßte auf zwei Seiten die kriminellen Ereignisse zusammen, die am Tag zuvor in der Stadt geschehen waren. Meine Aufgabe war, die beiden Seiten in lesbare Einzelmeldungen aufzulösen beziehungsweise umzuschreiben. Nach zwanzig Minuten war ich in Wettengels Zimmer allein. Rechts von mir ein großes Fenster ohne Gardinen (mit einem schönen Blick auf die Straße), links von mir eine Wand mit Tür, vor mir eine Schreibmaschine und der in einem grausigen Deutsch verfaßte Polizeibericht. Niemand klingelte mich herbei, niemand schickte mich herum, niemand trat mir zu nahe. Am Nachmittag redete Herrdegen darüber, in welchem Verhältnis Text und Fotos auf einer Zeitungsseite zueinander stehen sollten und daß auf jeder Seite eine abwechslungsreiche Stoffmischung zustande kommen muß. Ich redigierte die Beiträge anderer Mitarbeiter, versah sie mit Überschriften und Unterzeilen und legte jeden satzfertigen Artikel Herrdegen zur Kontrolle vor. Auf einem Regal hinter mir stand ein Vorkriegsradio. Es war halb kaputt, aber ich schaltete es gern ein, weil ich es schön fand, dem eigentümlichen Schlingern und Schleifen der Töne zu folgen. Ein Walzer traf in Form eines seufzenden Rauschens und Zischens in meinem Zimmer ein. Die Musik hörte sich an, als würde das Orchester zwischendurch immer wieder von einem Schneesturm überrascht. Mir fiel ein, daß ich als Kind jahrelang glaubte, hinter dem Lautsprecher des Radios sitze ein winzig kleines Orchester. Ich konnte mir damals Menschen denken, die nicht größer waren als Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren, und es irritierte mich nicht, daß ich derartig kleine Menschen in der Wirklichkeit niemals antraf. Sie saßen ja auch immerzu in Radios und spielten alte Walzer! Plötzlich erinnerte mich die Musik an Frau Kiefer. Ich hatte sie seit dem Betriebsausflug nicht mehr gesehen. Ich wagte nicht, sie am

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