Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Feierabend vom Betrieb abzuholen, weil ich fürchtete, mit ihrem Mann zusammenzutreffen. Er würde mir schon auf den ersten Blick anmerken, was geschehen war. Außerdem wollte ich die Geschichte vor den anderen Angestellten verbergen. Ein paar Tage lang beschäftigte mich die Frage, ob Frau Kiefer das Abenteuer mit dem Lehrling gestanden hatte oder nicht. Ein Geständnis ihrem Mann gegenüber würde bedeuten (so legte ich mir die Ereignisse zurecht), daß ich im Bewußtsein von Frau Kiefer kaum mehr als den Raum einer Anekdote einnahm. Ein akzeptiertes Geständnis war eine Art Annullierung. Ein ausbleibendes Geständnis konnte jedoch bedeuten, daß Frau Kiefer das Geheimnis vor ihrem Mann aufrechterhielt, und eine solche Verlängerung lief darauf hinaus, daß Frau Kiefer mit mir vielleicht ein Nebenliebesleben wünschte. Erst am vierten Tag rief ich sie in der Spedition an. Ich wollte sie direkt fragen: Haben Sie Ihrem Mann Bescheid gesagt oder nicht? Aber als ich ihre Stimme hörte, verließ mich meine Direktheit. Ich brachte nicht viel heraus, sie ebenfalls nicht. Ich mußte einsehen, daß die mich quälenden Fragen so schnell nicht zu klären waren. Nach dem Telefonat war ich froh, daß ich nicht gefragt hatte. Die Unklarheit war offenbar Teil eines mir neu zugefallenen Schmerzes. Ein anderer Teil des Schmerzes war: Ich wollte über Frau Kiefer überhaupt nicht so denken, wie ich die ganze Zeit über sie dachte. Auch dann, wenn ich tippte, fiel mir das Bild des auf dem Rücken liegenden weißen Lamms ein. Auch dann, wenn ich meinen Tisch verließ, um Herrdegen ein Manuskript zu bringen, sah ich das weiße Lamm auf meinem Tisch liegen. Ich trat sogar an die Tischkante heran und drang in die unaussprechliche Weichheit seines Innenkörpers ein. Es steigerte mein Begehren, daß ich nie wußte, ob das weiße Lamm gerade schlief oder nicht. Ich ging, das für Herrdegen bestimmte Manuskript in der Hand, wieder zu meinem Stuhl zurück, um meinem Verlangen wenigstens die Erleichterung eines Sitzplatzes anzubieten. Meine Sehnsucht nahm den Sitzplatz an, verhöhnte jedoch zugleich meine Einfalt. Du bietest deiner Lust nichts an als einen elenden Holzstuhl aus den Vorkriegsbeständen das Tagesanzeigers! Ich schreckte auf und stellte mich an das Fenster. Ich sah auf die Straße herunter, aber dort ereignete sich gerade nichts. Dann fiel mein Blick auf das Fenstersims. Dort wuchs schönes, wahrscheinlich weiches, lindgrünes Moos. Der Anblick entzückte mich. Das Moos zog sich am Außenrand des Simses entlang und wuchs dort völlig unbehelligt. Vermutlich war es sein selbstgenügsames, fast unentdecktes Dasein, das mich elektrisierte. Ja, auf einem Fenstersims müßte man leben dürfen, dachte ich. Ich öffnete das Fenster und fuhr mit der Innenhand über die Moosspitzen hinweg. Obgleich das feuchte Polster erneut eine Anspielung auf das weibliche Geschlecht war, spürte ich doch, daß meine Erregung zurückging. Ich schloß das Fenster und sagte vor mich hin: Das Moos ist groß. Ich mußte nicht lachen. Endlich schaltete ich das Radio ab. Ich verließ das Zimmer und trank in der Toilette ein bißchen Wasser. Draußen, auf dem Flur, lief Fräulein Weber entlang, die Sekretärin von Herrdegen. Sie hatte sich ein Paar neue Schuhe gekauft, die sie jetzt ausprobierte. Mein zweiter Versuch, Herrdegen ein Manuskript zu bringen, gelang problemlos. Vergessen Sie nicht, sagte Herrdegen, daß Sie um siebzehn Uhr ins Kino müssen. Das Royal hat das Programm gewechselt. Lassen Sie sich von Fräulein Weber den Dauerausweis geben. Ist gut, machte ich.
Wie der Film hieß, den ich mir am Ende dieses Arbeitstages anschaute, weiß ich nicht mehr. Es war ein sogenannter Musikfilm mit Peter Alexander in der Hauptrolle. Er spielte einen armen, jedoch lebenslustigen Kellner, der einem ebenso armen Zimmermädchen den Hof macht. Beide arbeiten in einem großen Hotel am Wolfgangsee. Sie sehen sich jeden Tag, und Peter Alexander läßt keine Gelegenheit aus (im Fahrstuhl, in der Küche, in der Garderobe, in der Wäschekammer), dem Zimmermädchen die allerneuesten Schlager vorzusingen. Die schüchterne Kollegin findet Gefallen an dem munteren Kellner, aber in Wahrheit hält sie ihn für einen Hallodri, den sie nicht zu nahe an sich heranläßt. Dann stellt sich heraus, daß der Kellner gar kein Kellner ist, sondern ein hochbegabter und fleißiger Student, dem eine große Karriere offensteht und der außerdem gerade eine beträchtliche Erbschaft gemacht
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