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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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hat. Jetzt erkennt das Zimmermädchen, daß der vermeintliche Kellner nur gesungen hat, um ihre Liebe zu erringen; in Wahrheit ist er ein ehrenwerter und aufstrebender junger Mann, dem sie ihre Gunst nicht länger verweigern kann. Der Film zog sich über eine Stunde lang hin, immerzu hin- und herschwankend zwischen peinlichen und verlogenen Details. Seine wichtigsten Bauteile (platte Dramaturgie, dümmliche Dialoge, alberne Handlung, absehbarer Plot) waren von bedrückender Einfalt. Besonders peinigend waren die so zahlreichen wie unmotivierten Gesangseinlagen von Peter Alexander. Nichts davon erschien in der Filmkritik, die ich am folgenden Morgen schrieb.
    Sie fing mit diesen Sätzen an: »Einen Strauß bunter Melodien präsentiert Peter Alexander in seinem neuesten Musikfilm... seinem zauberhaften Charme erliegt mit der Zeit auch das schüchterne Zimmermädchen Elfie... so verwandelt sich der anfänglich unseriös wirkende Kellner immer mehr in einen ernsthaften Heiratskandidaten, dem am Ende alle Sympathien zufliegen...« Denn ich hatte zuvor jahrelang die Filmkritiken in der Zeitung gelesen, für die ich nun selbst schrieb. Sie waren fünfzehn Druckzeilen lang und waren kaum mehr als stark überzuckerte Inhaltsangaben. Daß mein Empfinden im Kino und meine Filmkritik zwei völlig verschiedene Dinge waren, störte mich nicht, jedenfalls nicht während des Schreibens.
    Gegen 12.00 Uhr, ich zog gerade das Blatt mit der Filmkritik aus der Schreibmaschine, betrat ein Mann mit Aktentasche und Vollbart die Redaktion. Er griff sich einen Stuhl und setzte sich auf die andere Seite meines Arbeitstischs. Er war zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und hatte zarte Hände, die meine Mutter Künstlerhände genannt hätte. Sein Anzug stammte aus der Kriegs-, vielleicht sogar aus der Vorkriegszeit. Er öffnete die Aktentasche und holte beschriebene Seiten heraus, die er Schriftsatz nannte. Das Wort Schriftsatz hätte mich mißtrauisch machen müssen, aber ich saß auf der anderen Seite des Schreibtischs und war eingeschüchtert, weil jemand von mir etwas wollte. Außerdem gefiel mir der Mann. Ich hatte damals die Neigung, in solchen alten, ungepflegten, mit leiser Stimme sprechenden Männern kluge Eremiten zu sehen. Er reichte mir den Schriftsatz herüber. Es war die Kopie eines sechzehn Seiten langen Briefes an Bundeskanzler Adenauer. Es sind Vorschläge über die Versorgung der Ostgebiete, sagte der Mann. Über der Anrede las ich gesperrt das Wort EINGABE. Der Bundeskanzler weiß, daß ich in dieser Angelegenheit tätig bin, sagte der Mann. Zum ersten Mal zuckte ich zusammen und überlegte, wie ich den Mann loswerden könnte. Er sagte, daß ich seine Eingabe sofort drucken müßte, weil der Osten hungere. Leider machte ich in dieser Situation einen Fehler. Ich nahm die Eingabe an mich und legte sie rechts auf einen Stapel mit Manuskripten. Diese Geste versetzte den Mann in eine schwungvolle Aufregung. Er öffnete erneut die Aktentasche und holte eine Vielzahl von Zeitungsartikeln, Briefentwürfen und Manuskripten hervor, die mit zahllosen handschriftlichen Zusätzen angereichert und kaum noch lesbar waren. Er blickte auf das Bündel, steckte dies und das zurück in die Aktentasche und holte dafür andere Schriftsätze heraus, die er auf den Tisch legte. Ich faßte Mut und gab ihm außer der Eingabe, die ich schon angenommen zu haben meinte, sämtliche Papiere zurück. Gut, sagte der Mann, Sie müssen sich jetzt erst mal in die Ostgebiete einarbeiten. Ja, sagte ich, erhob mich und verabschiedete mich stehend von dem Mann, was dieser überraschend hinnahm; er drehte sich um und verließ die Redaktion.
    Am Nachmittag fiel mir auf, daß Herrdegen mit Fräulein Weber zwar zusammenarbeitete, jedoch kaum mit ihr redete. Wenn er etwas von ihr wollte, schrieb er seinen Wunsch auf einen kleinen Zettel, den er neben ihrer Schreibmaschine ablegte. Obgleich Fräulein Weber sehr jung war, tat sie so, als sei sie schon immer mit den Sonderbarkeiten dieses Zusammenlebens vertraut. Sie erhob sich und suchte für Herrdegen einen alten Artikel heraus. Vermutlich waren die Zettel entweder eine zusammenhängende Bestrafung (Herrdegen demütigte Fräulein Weber wegen irgendetwas) oder eine Maßnahme des Selbstschutzes (Herrdegen will nicht reden). Auch über meine Filmkritik verlor er kein Wort. Er setzte oben rechts sein Chefhäkchen auf die Manuskriptseite und schrieb erneut einen Zettel für Fräulein Weber. Ich trug meine Kritik in die

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