Eine Frau flieht vor einer Nachricht
liegen?
Ich weiß nicht … Meinst du, wir sollten ihn in unser Zimmer mitnehmen?
Ich weiß nicht. Wenn wir schlafen und er hier allein aufwacht …
Sie schauten sich verlegen an.
Ora versuchte, auf ihren Willen zu hören, und hörte nichts. Sie hatte keinen Willen, keine Meinung und keine Ahnung. Da kam sie durcheinander: Irgendwie hatte sie gehofft, mit der Geburt würde sie schon alles Nötige wissen, das Baby würde ihr endlich dieses natürliche und unerschütterliche Wissen geben, und sie begriff, wie sehr sie während der Schwangerschaft genau darauf gewartet hatte, fast ebenso wie auf das Kind selbst – auf das eindeutige Wissen um das Richtige, das zu tun war, denn das war ihr in den Jahren seit Avrams Unglück völlig abhanden gekommen.
Komm, sagte sie zu Ilan, wir lassen ihn hier.
Wieder spürte sie den Schmerz des Getrenntwerdens, wie jedes Mal, wenn sie sich im Krankenhaus von ihm hatte entfernen müssen. Ja, sagte sie, er muss nicht mit uns im Zimmer schlafen. Und wenn er weint? fragte Ilan zögernd. Wenn er weint, hören wir ihn, sagte sie, keine Sorge, ich werde ihn hören.
Sie gingen in ihr Zimmer und schliefen zwei ganze Stunden, und Ora erwachte, ein bis zwei Sekunden bevor Adam zu zwitschern begann, und spürte schon das Ziehen in der Brust, sie weckte Ilan und bat ihn, Adam zu holen. Sie legte die Kissen im Bett zurecht, lehnte sich bequem an, und Ilan kam mit Adam auf dem Arm aus dem andern Zimmer und strahlte.
Sie stillte Adam, staunte wieder, wie klein sein Kopf an ihrer Brust war, er saugte kräftig, energisch, fast ohne sie anzuschauen, und unbekannteFlammen der Wonne und des Schmerzes durchzogen sie und gruben ihr Leib und Seele um. Ilan stand daneben und betrachtete die beiden wie hypnotisiert, und sein Gesicht verlor jegliche Körperlichkeit. Ab und zu fragte er, ob sie so bequem sitze, ob sie Durst habe, ob sie spüre, wie die Milch einschieße. Sie nahm das Kind von der einen Brust und legte es auf der anderen Seite an, trocknete mit einem Läppchen die Brustwarze, und Ilan schaute auf ihre Brust, die damals, so schien es ihr, gewaltig war, mondförmig und von einem Netz bläulicher Adern durchzogen, und in seinen Augen entdeckte sie eine Art neuer Ehrfurcht; plötzlich wirkte er wieder wie ein Junge, und sie fragte, willst du ihn nicht fotografieren? Er zwinkerte, als erwache er aus einem Traum, nein, ich mag jetzt nicht. Das Licht ist nicht gut.
Woran hast du gedacht? fragte sie.
An nichts. An niemanden.
Sie sah, wie sich gleichsam eine dunkle Spinne auf seinem Gesicht breitmachte.
Vielleicht fotografierst du ihn später, sagte sie schwach.
Ja, natürlich, später.
Auch später hat er kaum fotografiert. Manchmal brachte er den Fotoapparat, nahm den Linsendeckel ab, stellte alles ein – aber dann schien ihm irgendwie die Beleuchtung nicht gut, passte der Winkel nicht, vielleicht später, wenn Adam richtig wach ist.
Avram räuspert sich leicht, als wolle er sie in ihrer Gedankenverlorenheit daran erinnern, dass er noch da war. Sie lächelt ihn verblüfft an: Ich hab mich mitreißen lassen, plötzlich hab ich mich an alle möglichen … Sollen wir weitergehen? Nein, das ist hier ganz okay, sagt er und stützt sich auf seine Ellbogen, obwohl sein ganzer Körper brodelt und nichts wie weg will. Sie sitzen da, schauen über das üppige Tal, das sich zu ihren Füßen erstreckt. Hinter Avram, im Schatten seines Körpers, ein stilles Gewimmel. In einer vertrockneten Fenchelstaude krabbeln Ameisen, nagen an den verholzten Teilen und finden noch geronnenen Pflanzensaft. Der winzige blütenbesetzte Stengel einer Orchidee ragt lila und schmetterlingszart auf, während sich einer seiner in der Erde versteckten Wurzelknollen leert und der andere sich füllt. Ein bisschen weiter, im Schatten von Avrams rechter Schulter, schickt eine kleine weiße Taubnessel, ganz vertieft in ihre kompliziertenFunktionen, Geruchssignale an die Insekten, die sich zwischen ihr und anderen entscheiden müssen, und lässt sich indessen, für den Fall, dass jene sie enttäuschen, auch fruchtbare Kelche zur Selbstbestäubung wachsen.
Eines Nachts erzählt Ora, als Adam etwa einen Monat alt war, wachte er auf und hatte Hunger, Ilan stand auf und brachte ihn mir, aber als ich ihn stillte, ist er nicht im Zimmer geblieben. Das war merkwürdig. Ich rief ihn, er war im Wohnzimmer, sagte, er komme gleich. Ich verstand nicht, was er da im Dunkeln machte, ich hörte keine Geräusche oder Bewegungen. Ich hatte das
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