Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
Gefühl, er stehe am Fenster und schaue hinaus, und ich wurde unruhig.
    Szenen und Bilder, an die sie schon seit Jahren nicht mehr gedacht hat, erstehen vor ihren Augen. Lebendig, scharf, und klar wie noch nie. Plötzlich begreift sie, dass sie vielleicht genauso große Angst vor dem Erzählen hat wie er vorm Zuhören.
    Nachdem ich Adam gestillt hatte, brachte ich ihn zurück in sein Bett. Da sah ich, dass Ilan mitten im Wohnzimmer stand, er stand einfach da, als habe er vergessen, wohin er gehen wollte. Ich sah ihn von hinten und wusste gleich, da stimmt was nicht.
    Sein Gesicht sah furchtbar aus. Er schaute mich an, als hätte er Angst vor mir oder als wollte er mich schlagen. Vielleicht auch beides. Er sagte, er könne nicht mehr, er halte es nicht mehr aus, dass du …
    Sie schluckt: Willst du das wirklich hören?
    Avram brummt etwas, zieht sich hoch, so dass er anders sitzt, und legt den Kopf auf die Arme. Sie wartet. Sein Rücken atmet. Er steht nicht auf. Er geht nicht weg.
    Ilan sagte, die Gedanken an dich machten ihn fertig. Er komme sich vor wie ein Mörder – ich habe gemordet und auch noch geerbt, hat er gesagt –, er könne Adam nicht anschauen, ohne dabei dich zu sehen und an dich zu denken, auf dem Posten, in Gefangenschaft oder im Krankenhaus.
    Sie sieht Avrams Rücken, wie er sich verkrampft.
    Sie hatte ihn gefragt, was meinst du, was sollen wir tun? Und Ilan hatte nicht geantwortet. Das Haus war geheizt, trotzdem fror sie. Barfuß im Morgenmantel stand sie da, zitterte und die Milch tropfte. Wieder fragte sie ihn, was er vorschlage, und Ilan sagte, er habe keine Ahnung,aber so könne er nicht weitermachen. Er bekomme Angst vor sich selbst.
    Vorher, als ich ihn dir gebracht habe – sagte er und brach ab.
    Wir sind nicht daran schuld, murmelte sie das Mantra jener Jahre, wir haben nicht gewollt, dass das passiert, wir haben das nicht bestellt. Es ist einfach passiert, Ilan, da ist uns einfach etwas ganz Entsetzliches passiert.
    Ich weiß.
    Und wenn er nicht dort gewesen wäre, in dem Posten, dann wärst eben du dort gewesen.
    Aber das ist es ja grade, sagte er mit verzerrtem Gesicht.
    Du oder er, eine andere Möglichkeit hat es wohl nicht gegeben, sagte sie und ging zu ihm, um ihn zu umarmen. Lass das, Ora, er hob die Hand, damit sie sich ihm nicht näherte. Das haben wir alles schon gehört, das haben wir alles schon gesagt, wir haben geredet, ich bin nicht schuld und du bist nicht schuld, und Avram ist garantiert nicht schuld, keiner wollte, dass es so kommt, und trotzdem ist es passiert, und wenn ich nicht so eine Null wäre, hätte ich mir damals das Leben genommen. Sie schwieg. Jedes Wort, das er sagte, hatte sie schon unzählige Male vorher gedacht, in seiner Stimme und in ihrer Stimme. Sie fand nicht die Kraft, ihm zu sagen: Red keinen Stuss.
    Jetzt erzählt sie Avram, friert in der zunehmenden Hitze des Tages, und vor lauter Spannung bebt ihre Stimme ein bisschen. Sie sieht sein Gesicht nicht. Er versteckt es hinter den Armen, die seine Knie umklammern. Sie hat den Eindruck, er hört ihr aus den Tiefen seines Körpers zu, wie ein Tier in seiner Höhle.
    Und dass wir auch noch hier wohnen, sagte Ilan.
    Nur bis er zurückkommt, murmelte sie. Wir hüten nur sein Haus.
    Das sag ich ihm auch die ganze Zeit, wenn ich bei ihm bin, flüsterte Ilan, und ich weiß nicht, ob er überhaupt kapiert, dass wir hier schon richtig wohnen.
    Aber in dem Moment, wo er zurückkommt, sind wir draußen.
    Ilan zog sich schmerzhaft spöttisch an der Lippe: Und jetzt soll unser Kind hier aufwachsen.
    Ora hatte das Gefühl, ihr Körper würde, wenn Ilan sie nicht sofort in den Arm nahm, zu Boden fallen und in tausend Stücke springen.
    Ich seh keinen Weg, wie wir da rauskommen, sagte Ilan, keine Chance, dass wir das je hinkriegen – dann wurde er laut und schrie richtig –, und ich hab gedacht, wir würden hier leben, noch ein Kind bekommen und vielleicht noch eins, wir haben doch mal von vier Kindern gesprochen, eins wollten wir adoptieren, erinnerst du dich? Um der Menschheit etwas Gutes zurückzugeben, haben wir das nicht so gesagt? Und jedes Mal, wenn wir uns in die Augen schauen, werden wir ihn sehen, immer, unser ganzes Leben lang und sein ganzes Leben lang, zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre wird er da in seinem Dunkel sitzen, begreifst du das nicht? Ilan packte seinen Kopf mit beiden Händen, seine Stimme tobte, und Ora fürchtete sich plötzlich vor ihm. Hier wird ein Kind heranwachsen, eine ganze neue

Weitere Kostenlose Bücher