Eine Frau flieht vor einer Nachricht
nicht mit ihm oder mit überhaupt jemandem. Wir sprachen mit aufgeschlagenen Kalendern ganz genau ab, bis wann Ilan sich weiterhin allein um dich kümmert und wann ich wieder in den Turnus einsteige, und wir verabredeten, vor dir weiter so zu tun, als wäre bei uns alles in Ordnung, zumindest bis du dich ein bisschen erholt hättest. Wir wussten ja, dass das nicht besonders schwierig sein würde, denn ohnehin interessiertest du dich kaum für etwas. Du hast grade mal ein bisschen mitgekriegt, was um dich herum passierte – oder wolltest du bloß, dass alle so von dir dachten, damit sie dich in Ruhe ließen? Ja? Dass sie dich endlich aufgeben und in Ruhe lassen?
Unter den halb geschlossenen Lidern bewegen sich seine Augen zur Seite.
Zum Schluss hast du es auch geschafft, sagt sie trocken.
Dann, mitten beim Einatmen, hält sie inne, erstarrt für einen Moment, denn plötzlich erinnert sie sich nicht mehr an Ofers Gesicht. Sofort springt sie auf und muss weiter, und Avram seufzt, steht auch auf und geht hinter ihr her. Sie starrt vor sich hin, ohne etwas zu sehen, ihre Augen bohren schwarze Kamine in den helllichten Tag, doch Ofer ist nicht zu sehen. Sie geht weiter, und sein Gesicht zerfällt in ihrem Kopf in einen Wirbel aus Bruchstücken. Für einen Moment blähen sie sich entsetzlich vor ihr auf und zerplatzen dann, als stieße jemand eine riesige Faust durch seine Haut und risse ihn von innen auf. Sie weiß sofort, das ist eine Strafe, aber wofür? Vielleicht dafür, dass sie ihre Wanderung fortsetzt und nicht auf der Stelle nach Hause zurückkehrt, um dort die schlimme Nachricht entgegenzunehmen. Oder dafür, dass sie zu keinem Kompromiss bereit ist (leicht verletzt? womöglich schwer? das Bein? unterhalb des Knies? unterhalb des Knöchels? der Arm? ein Auge? beide Augen? das Geschlechtsteil?). Fast zu jeder Tageszeit, hinter allen Dingen, Wörtern und Handlungen summen solche Angebote, die ihr von irgendwoher gemacht werden: Auch mit einer Niere kann man ganz gut leben, sogar mit nur einer Lunge; überleg mal, lehn das nicht gleich ab, so ein Angebot kriegst du nicht alle Tage, du wirst noch bereuen, dass du es abgelehnt hast, andere Familien sind darauf eingegangen und sind heute glücklich, relativ glücklich zumindest. Überleg es dir noch einmal, denk gut nach: Im Fall einer Phosphorverbrennung zum Beispiel kann man Haut transplantieren. Sogar Gehirnverletzungen kann man heute behandeln. Und auch wenn er nur noch eine Pflanze ist, wird er trotzdem leben, du kannst ihn versorgen, deine riesige Erfahrung von Avrams Verwundung, kannst du ihm zukommen lassen, also bitte, überdenk das nochmal: Er wird leben, Gefühle und Wahrnehmungen haben, das ist nicht das schlechteste Geschäft in deiner Situation. Tage und Nächte hindurch hat sie diese summenden Meldungen abgeschmettert, und auch jetzt reckt sie den Kopf und geht zwischen ihnen hindurch, versucht nur, ihr Gesicht vor Avram zu verstecken, ihn vor dem Gorgonenhaupt zu schützen, das sie in diesemMoment zu haben meint, sie wird kein Geschäft machen und auch keine wie immer geartete schlimme Nachricht entgegennehmen. Geh, geh weiter. Sprich, erzähl ihm von seinem Sohn.
Dann begann für mich etwas völlig Neues, sagt sie, ich hatte keinen Funken Kraft, aber ich hatte ein Baby, und das zwang mich zu leben, mit der Entschlossenheit eines Babys kam er in mein Leben, im festen Glauben, dass alles allein für ihn erschaffen wurde, vor allem ich. Wir waren die ganze Zeit zusammen, er und ich, beinah vierundzwanzig Stunden am Tag. Im ersten Jahr noch ohne Kindermädchen und fast ohne Hilfe, nur ein paar Freundinnen wechselten sich zweimal die Woche ab, als ich wieder mit meinen Besuchen bei dir in Tel Aviv anfing. Aber den Rest der Zeit, die Tage und Nächte, war ich mit ihm allein.
Avram geht neben ihr her, nickt sich selbst zu, verbiegt sich in sich selbst zu einem Fragezeichen.
Das war eine herrliche Zeit für Adam und mich, sagt sie, die Zeit unserer Wunder.
Es waren unsere glücklichsten Jahre, denkt sie.
Nach und nach habe ich ihn kennengelernt – sie erinnert sich ausgerechnet an seine Zornausbrüche, wenn sie es wagte, ihn von der einen Brust abzunehmen, ehe er fertig war. Mit großem Geschrei, Empörung in den Augen und dem vor Kränkung puterrot anlaufenden Kopf.
Und der verschmitzte Humor in seinen Blicken und beim Spielen, sagt sie. Ich wusste nicht, dass Babys Humor haben, das hat mir keiner gesagt.
Avram nickt weiter vor sich hin. Als
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