Eine Frau flieht vor einer Nachricht
verzweifelt an: Sag, Avram, wie sollen wir das alles schaffen?
Der Berg erhebt sich über ihnen wie eine Welle Wald, und Avram sieht, wie ihre braunen Augen grün funkeln, sieht, wie diese Augen noch immer funkeln.
Vergiss nicht, fährt sie fort, in den ersten Monaten nach Adams Geburt hat er sich auch ganz allein um dich gekümmert. Er ist jeden Tag zu dir ins Krankenhaus Tel Haschomer und in all die Rehakliniken gefahren, in die sie dich geschickt haben, und jeden Abend hat er mir detailliert berichtet; wir hatten lange telefonische Sitzungen über deine Behandlungen, die Medikamente, ihre Nebenwirkungen, und auch über diese Verhöre, das darfst du nicht vergessen.
Hm, brummt Avram und schaut in die Ferne.
Und du hast ihn kein einziges Mal nach mir gefragt, was mit mir ist, warum ich plötzlich nicht mehr komme.
Er atmet schwer, richtet sich auf, macht nun größere Schritte. Sie muss sich anstrengen mitzukommen.
Du wusstest noch nichtmal, dass ich Adam bekommen hatte. Das hab ich mir damals zumindest gedacht.
Sag mal, Ora …
Ja?
Hat er sich für Adam interessiert?
Für Adam? Sie stößt ein schmales Lachen aus.
War nur ’ne Frage.
Gut, sagt sie, streckt sich und bereitet sich darauf vor, eine alte Kränkung noch einmal zu durchzuleben. Am Anfang hat er durchaus noch nach Adam gefragt, das heißt, er hat sich Mühe gegeben, später hat er etwas weniger gefragt, und irgendwann hab ich gemerkt, dass es ihm sogar schwerfiel, seinen Namen auszusprechen. Dann begann er eines Tages, vom »Kind« zu reden, wie das Kind nachts geschlafen habe, wie seine Verdauung sei und so weiter, und da bin ich explodiert, auch ein gutmütiger Trottel wie ich kommt mal an seine Grenzen.
Als er anfing, Adam »das Kind« zu nennen, hab ich mich gefangen und ihm gesagt, er soll mich nicht mehr anrufen. Er soll aus meinem Leben verschwinden. Endlich konnte ich ihm sagen, was ich ihm schon Monate vorher hätte sagen sollen. Ich bin so doof gewesen, etwa drei Monate lang hab ich diese verschrobene Routine mitgemacht, stell dir das vor. Wenn ich heute daran denke …
Sie suchen Zuflucht im Schatten eines Aussichtspunktes, von dem aus man über das Hulatal blickt. Die Muskeln tun ihnen weh, und nicht nur vom Gehen. Avram sinkt auf den Boden, setzt noch nichtmal den Rucksack ab. Ora meint, immer wenn er stehenbleibt und sich nicht bewegt, überkomme ihn sofort so eine felsige undurchlässige Schwere. Mit den neugierigen Augen des Mädchens in sich mustert sie ihn insgeheim: Sie bemerkt, dass er sich scheut, in die Weite zu schauen, in das breite offene Tal am Fuße des Berges, oder auf den Berg selbst, auf dem sie gehen, in die Weite des Himmels. Sie erinnert sich, wie Ilan einmal über ihn gesagt hat: »Er hat sich verlöscht und sitzt jetzt in sich selbst im Dunkeln«, und auch hier draußen, in der Sonne und dem Himmelblau, ist seine Haut zwar hell und rötet sich schnell, aber es hat den Anschein, als wäre sein Körper undurchlässig für Licht.
Oder für Schönheit. Oder für Ofer.
Mit schnellen Bewegungen putzt sie ihre Brillengläser, haucht sie immer wieder an. Reibt kräftig. Beruhigt sich.
Nachdem ich den Hörer aufgeknallt hatte, rief er sofort wieder an. Dass ich ihn aus meinem Leben rausschmeiße, könne er durchaus verstehen, aber ich könne ihn nicht aus der gemeinsamen Verantwortung für unser anderes Kind rausschmeißen.
Wie? Ach so.
Ja sicher.
So haben sie also über mich geredet, grübelt Avram und denkt, in noch ein, zwei Minuten wird er sie bitten aufzuhören. Mehr kann er nicht aufnehmen.
Und dann hatten wir noch ein Gespräch, sagt sie, eines der unglaublichsten, die wir je hatten. Wir wollten uns absprechen, wie wir uns jetzt um dich kümmern sollten, wie wir vor dir geheimhalten würden, was bei uns passierte, denn es war klar, so eine Krise bei uns, quasi bei den Eltern, konntest du zu dieser Zeit wirklich nicht gebrauchen. Sie lachte kraftlos, und Avram erinnerte sich aus irgendeinem Grund daran, wie er sich mit etwa dreizehn, lange nachdem sein Vater eines Tages einfach weggegangen und verschwunden war, eingeredet hatte, sein geheimer, wahrer Vater sei der Dichter Alexander Pen, und wie er jede Nacht, mehrere Wochen lang, vor dem Einschlafen im Flüsterton Pens Poem Der ausgesetzte Sohn gelesen hatte.
Wir redeten miteinander wie völlig Fremde, Ilan und ich, sagt sie, nein, eher wie die Anwälte völlig fremder Leute. Mit einer Sachlichkeit, die ich bei mir nicht für möglich gehalten hätte,
Weitere Kostenlose Bücher