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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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lerne er einen wichtigen Unterrichtsstoff auswendig. Wir üben jetzt einfach, staunt Ora, Avram und ich, wir üben zusammen an Adam, bevor wir zu Ofer kommen, wir üben den Wortschatz, die Grenzen und die Ausdauer.
    Und in mir, fuhr sie fort, war die ganze Zeit das totale Chaos. Als seien alle Abläufe des Körpers und der Seele durcheinander gekommen. Ich war damals auch viel krank, hatte dauernd Entzündungen und Blutungen, und immer diese furchtbare Schwäche. Aber auch ein ganz verrücktes Gefühl von Kraft, wahnsinnig viel Kraft, frag michnicht, woher. Und Anfälle von Weinen und Freude, Verzweiflung und Euphorie, und das alles innerhalb von Minuten. Wie sollte ich noch eine Stunde mit ihm überleben, wenn er vierzig Fieber hatte und mir die Ohren vollschrie, und das um zwei Uhr nachts, und der Arzt geht nicht ans Telefon, und andererseits – ich kann alles, kann ihn im Maul packen, vom einem Ende der Welt zum andern tragen, eine Frau, gewaltig wie ein Heer .
    Da leuchtet Avram für einen Moment auf, lächelt vor sich hin, als koste er mit den Lippen, ohne Stimme: eine Frau, gewaltig wie ein Heer . Ihre Schultern entspannen sich, öffnen sich ihm entgegen »wie ein gebrochenes Schabbatbrot«: Manchmal hatte er sie so genannt, aber auch Portabella, mein Beneficium oder meine Remedia oder Dulcinea. Sie kannte diese liebevollen Wörter nicht, mit deren exotischen Klängen er sie umhüllte, als legte er ihr einen feinen Schal um die Schultern, den nur sie beide sehen konnten. »Von Avram«, pflegten Ora und Ilan in den Jahren nach Avram zueinander zu sagen, wenn irgendwo im Gespräch, im Radio oder in einem Buch so ein Wort auftauchte, das einfach für Avram geboren war, das von Anfang an wie für seinen Mund geformt war.
    Eines Tages rief Ilan an, sagt Ora, und teilte mir seine neue Adresse und Telefonnummer mit, so als wär ich das Büro für den Reservedienst. Die Wohnung in Talpiot sei ihm zu kalt, sagte er, deshalb miete er eine andere Wohnung, in der Herzlallee in Bejt HaKerem. Na, dann viel Glück, sagte ich und strich seine alte Nummer am Kühlschrank durch.
    Zwei Monate danach, bei einem ganz normalen Gespräch über dich und deinen Zustand, gab er mir wieder eine neue Nummer. Was ist los? Hast du ein neues Telefon? Nein, aber bei uns auf der Straße arbeiten sie schon seit einem Monat, reißen Tag und Nacht die Straße auf und schütten sie wieder zu; es ist furchtbar laut, und du weißt ja, Lärm macht mich wahnsinnig. Und wo wohnt deine neue Telefonnummer? In Even Sappir, nicht weit vom Hadassa-Krankenhaus. Ich hab ein nettes Häuschen in einem Hof gefunden. Und da ist es ruhig? fragte ich. Wie in einem Grab, beteuerte er, und ich schrieb die neue Nummer an den Kühlschrank.
    Nach noch ein paar Wochen wieder ein Anruf, der Sohn seiner Hauswirtin habe ein Schlagzeug gekauft. Er hielt den Hörer aus demFenster, damit auch ich mich daran erfreuen konnte. Wirklich riesige Trommeln, mindestens Tamtam-Trommeln für einen ganzen Dschungel, so kann ein Mensch nicht leben, da stimmte ich ihm zu und ging wieder mit dem Kuli zum Kühlschrank. Ich habe schon einen Vertrag für etwas Kleines in Bar Giora, näselte er. Bar Giora? Das ist doch hier, dachte ich, genau gegenüber, auf der anderen Seite des Wadis, ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog, und verstand nicht, war es Erregung oder die Angst vor seiner plötzlichen Nähe. Doch die Wochen vergingen, und in unserem Verhältnis änderte sich nichts. Er war dort, wir waren hier, und wir waren immer mehr wir.
    Nach einer Weile wieder ein Anruf: Hör mal, ich hab mich ein bisschen mit dem Hausbesitzer angelegt, der hat zwei Rottweiler, richtige Killerhunde. Ich zieh nochmal um, und ich dachte, du solltest es vielleicht wissen: Das ist jetzt ziemlich nah bei dir. Er lachte verlegen, es ist im Grunde direkt bei dir im Ort, in Zur Hadassa, ich meine, wenn es dich nicht stört.
    Aber Hallo! Ilan! rief ich, spielst du mit mir jetzt heiß heiß, kalt kalt?
    Ilan lachte wieder. Sie kannte Ilan und seine verschiedenen Arten zu lachen, und in diesem Lachen schwang etwas Schwaches, Armseliges, und sie spürte wieder, wie stark sie war. Ich schwöre dir, sagt sie zu Avram, bis dahin wusste ich wirklich nicht, was für eine Löwin ich bin, mit allen vier Pfoten auf der Erde. Und gleichzeitig war ich total schwach, ein Lumpen, auf dem sich alle die Füße abtreten können. Ich hab mich auch fast immer nach ihm gesehnt; alles erinnerte mich an ihn – wie Adams Nuckeln

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