Eine Frau flieht vor einer Nachricht
des Feldes. Sogar der neue steile Abhang – eine Art Ziegenpfad über einen gewaltigen felsigen Trümmerhaufen – macht ihnen jetzt keine Angst. Riesige Eichen wachsen aus den steilen Felsen; ihre Äste hängen über den Abhang. Ora und Avram schweigen, konzentrieren sich auf den schwierigen Abstieg, helfen sich gegenseitig, hüten sich, auf den von den Quellbächlein feuchten Steinen auszurutschen.
Später – sie tragen beide keine Uhr und haben schon längst keinen Begriff mehr von Minuten oder Stunden; die Zeit bemisst sich nach der Brechung des Lichts im Prisma des Tages – lehnt sich Avram mit dem Rucksack an einen Baumstamm, setzt sich langsam hin und streckt die Beine von sich. Sein Kopf sinkt ein bisschen vor, für einen Moment sieht er aus, als schliefe er. Ora lehnt ihren Kopf gegen einen kühlen Felsen, schließt die Augen und lauscht dem Wasserrauschen in der Nähe. Avram sagt, wir sind in diesen Tagen viel gelaufen, und sie, ich kann kaum noch die Beine bewegen, und er, ich bin bestimmt dreißig Jahre nicht mehr so gelaufen. Das ist seine Stimme, denkt sie, er spricht mit mir. Und als sie die Augen aufmacht, schaut er sie an. Direkt und klar blickt er in sie hinein.
Was ist?
Nichts.
Was schaust du so?
Dich an.
Und was siehst du?
Er antwortet nicht. Sein Blick weicht aus. Er findet ihr Gesicht nicht mehr schön, davon ist sie überzeugt, und denkt, auch ihr Gesicht ist für ihn ein gebrochenes Versprechen.
Sag mal, Ora.
Was?
Ich hab mir überlegt, heute, als wir gelaufen sind, hab ich mir überlegt – wie … sieht er aus?
Wie er aussieht?
Ja.
Wie Ofer aussieht?
Avram verzieht den Mund: Ist das keine gute Frage?
Doch, doch. Eine prima Frage.
Sie dreht den Kopf hin und her, um sich die Augen zu trocknen, die auf einmal …
Ich hab ein kleines Bild von ihm im Geldbeutel, zusammen mit Adam, wenn du …
Nein, nein, sagt er erschrocken, erzähl lieber.
Nur mit Worten? Sie lächelt.
Ja.
Fröhliches, mutiges Gezwitscher erfüllt auf einmal das schmale Wadi. Ein unsichtbarer Vogel singt im Gebüsch, Ora und Avram senken den Kopf, saugen die Freude dieses kleinen Wesens in sich auf, das vor Leben und Geschichten übersprudelt. Da wird eine ganze Handlung ausgebreitet, vielleicht die Ereignisse des vergangenen Tages, ein Lob auf Körner und Würmer, die Geschichte von der wundersamen Rettung aus den Klauen eines Raubvogels, und zwischendrin ein Refrain, der nur aus Klagen und Widerrede besteht. Eine bittere Abrechnung mit einem kleinlichen Gegner.
Als ich dich so gehen sah, sagt Ora, als der Gesang in ein eher weltliches Gezwitscher umschlägt – heute, vor ein paar Augenblicken, dachte ich mir, wie Ofers Gang sich im Laufe der Jahre verändert hat.
Avram beugt sich etwas vor und lauscht.
Etwa bis er vier war, ist er gelaufen wie du, genau mit diesem … Du weißt schon, so hin und her wankend, mit abstehenden Armen wie ein Pinguin, eben wie du läufst.
So laufe ich? fragt er beleidigt.
Weißt du das nicht?
Auch heute noch?
Sag, willst du nicht mal seine Schuhe anziehen? Probier sie mal an, was soll’s …
Nein, nein. Diese hier sind ganz bequem.
Willst du sie die ganze Zeit umsonst schleppen?
Also, du sagst, er lief wie ich?
Als er klein war. Mit vier oder fünf. Danach hatte er alle möglichen Phasen. Weißt du, Kinder ahmen doch nach, was sie sehen.
Ach ja? Er denkt an Ilans federnden, kampflustigen Gang.
In der Pubertät – willst du das wirklich hören?
Ich bin ganz Ohr, murmelt Avram.
Bis dahin ist er furchtbar dünn gewesen, und klein. Wenn du ihn jetzt sehen würdest, du würdest nicht glauben, dass er derselbe Mensch ist. Später hat er einen Riesenschub gemacht, ungefähr mit sechzehneinhalb, in die Breite und in die Höhe. Aber davor war er – sie malt mit den Fingern eine Linie in die Luft – wie ein Schilfrohr; Beine wie Zahnstocher. Es hat mir jedes Mal das Herz gebrochen, ihn so zu sehen. Und er ist die ganze Zeit – plötzlich fällt mir das ein – mit so schweren Bergstiefeln rumgelaufen, ein bisschen so wie die, die an deinem Rucksack hängen. Vom Aufstehn bis zum Schlafengehen hat er sie nicht ausgezogen.
Warum denn?
Warum? Verstehst du wirklich nicht, warum?
Natürlich weiß er es, denkt sie sofort, aber er muss es von dir hören, Wort für Wort, jetzt versteh doch.
Weil sie ihn ein bisschen größer gemacht haben, sagt sie, und er hat sich darin bestimmt auch stärker gefühlt. Stabiler. Männlicher.
Verstehe, murmelt Avram.
Ich sag dir, er
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