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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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war wirklich sehr klein.
    Wie klein, lächelt Avram ungläubig, wie klein?
    Mit den Augen signalisiert sie ihm: sehr klein. Winzig. Avram nickt, nimmt das erste Mal den Ofer in seine Augen auf, den er in ihrem Blick sieht: ein winziges Kind, murmelt sie, ein Däumling. Und sie fragt sich, was für ein Kind er wohl all die Jahre in seiner Vorstellung gesehen hat.
    Hast du nicht gedacht, dass er …
    Ich habe nichts gedacht, unterbricht er sie, sein Gesicht verschließt sich.
    Und hast du nie versucht, dir vorzustellen, wie er …
    Nein! Er bellt sie beinah an.
    Sie schweigen. Ein sehr kleiner Junge, grübelt Avram, und etwas in ihm regt sich und gibt ihm einen Stich ins Herz. Ein schwebendes Kind. Ein flüchtiger Schatten. Das Leid eines solchen Kindes hätte ich nicht ausgehalten. Seinen Neid auf die anderen Kinder. Er schaut wieder in ihre Augen, und sie zeigt ihm gleichsam mit einem Zwinkern der Seele die Richtung, den dünnen Leib mit den hängenden Schultern, den schmalen Nacken, Beine wie Bleistifte, und die zarten Füße, die nur mit zwei Paar Socken in den schweren Schuhen hielten.
    Wie ein Fohlen, erinnert sie sich, wie ein Fohlen, das noch nicht stehen kann und schon riesige Hufeisen bekommt.
    Wie kann man so ein Kind überhaupt schützen, denkt Avram, wie überlebt der die Schule, wie die Straße. Kann man den überhaupt allein aus dem Haus lassen? Allein die Straße überqueren lassen? Ich hätte das nicht ausgehalten.
    Liebe ihn, bittet Ora im Stillen.
    Ich habe mir nichts gedacht, murmelt er, gar nichts.
    Wie ist das möglich, fragen ihre Augen.
    Frag mich nicht, antwortet sein Blick und weicht sofort aus. Seine Daumen rennen über die Kuppen der anderen Finger. Der Muskel, der sich in seinem Kiefer anspannt, sagt, stell mir nicht solche Fragen.
    Aber ich hab dir doch gesagt, versucht sie ihn zu trösten, danach hat er einen gewaltigen Schub getan, in die Breite und in die Höhe. Heute ist er echt …
    Aber damals, denkt Avram und weigert sich aus irgendeinem Grund, sich von seinem merkwürdigen neuen Schmerz zu trennen, ähnlicheinem grausamen Schmerz in der Seele, auf den ein leichtes Streicheln folgt.
    Avram selbst, erinnert sie sich, war immer klein. Aber breit und stämmig. Heute habe ich noch die Gestalt eines Zwerges, hatte er eines Tages den Jungen und Mädchen in seiner Klasse völlig sachlich erklärt, so ist das bei allen Männern in unserer Familie, log er mit frecher Stirn weiter, aber mit neunzehn fangen wir plötzlich an zu wachsen, und wachsen und wachsen, dann kann uns keiner mehr aufhalten, hatte er gelacht, und dann rechnen wir ab. In der Pause, im Umkleideraum der Turnhalle hatte er vor allen andern Me’ir Blutreich verkündet, dass dessen Abonnement als Dickster der Klassenstufe abgelaufen sei, ab jetzt trage er, Avram, diesen offiziellen Titel, und er habe nicht die Absicht, mit irgendwelchen Möchtegernfettis, die nur so tun und bei denen die Oberarme und die Wampe nicht genug wabbeln, in Wettbewerb zu treten.
    Und sag mal, flüstert Avram, ich weiß gar nicht, ob er …
    Ob er was? sagt Ora, frag ruhig.
    Ob er auch – na ja – ob er auch rothaarig ist.
    Er ist ziemlich rothaarig zur Welt gekommen, lacht sie erleichtert, und ich hab mich riesig darüber gefreut, und Ilan sich auch, aber dann ist er in der Sonne sehr schnell blond, sogar goldblond geworden. Und jetzt ist er ein bisschen dunkler. So wie dein Bart ungefähr.
    Meiner? rief Avram erregt und fuhr sich über die wilden Bartbüschel.
    Er hat wunderbares Haar, voll und dick, an den Enden gelockt, schade, dass er sich jetzt den Kopf rasiert, er sagt, das sei bei der Armee bequemer, aber vielleicht lässt er es nach der Entlassung wieder wachsen …
    Sie verstummt.

    Adam hatte gestaunt, als sie ihn mit Fotoapparat und Blitzgerät überfiel, dann aber mit etwas verdächtiger Begeisterung mitgemacht. Sie hatte ihn beim Spielen, beim Malen, beim Fernsehen fotografiert. Im Bett liegend, unter der Decke. Ora sorgte sich, er könnte noch eine Zelluloidvergiftung bekommen. Am nächsten Tag, als sie weiter fotografierte, hatte er sie scheinbar arglos angeschaut und gefragt: Die sindfür den Mann im Schuppen, oder? Ora war die Luft weggeblieben, nein, wieso denn? Die sind für meinen kranken Freund. Der, der in Tel Aviv im Krankenhaus liegt. Ach so, sagte Adam enttäuscht, der, zu dem du die ganze Zeit hinfährst? Ja, der, den ich immer besuche. Er möchte unbedingt wissen, wie du aussiehst.
    Zu diesem Freund stellte Adam keine

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