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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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deinem Zimmer gesessen oder dort im Garten und kaum ein Wort gesagt. Mit anderen Verwundeten hast du keinen Kontakt aufgenommen, mit den Schwestern auch nicht, hast nichts gefragt. Ich habe nie gewusst, was du von meinem ganzen Geschwätz überhaupt mitkriegst. Ich hab dir von meinem Sozialpädagogik-Studium an der Uni erzählt, das ich, als du zurückkamst, gleich abgebrochen habe, ich hatte keinen Kopf mehr dafür, und habe dich mit Szenen aus dem Campusleben vollgelabert, habe dir das Projekt mit meinen Straßenkindern beschrieben, das ich natürlich auch aufgegeben hatte, als du zurückgekehrt bist, aber jedes Mal hab ich dir von neuem erzählt, wie ich es aufbaue, wer mir dabei hilft und wer nicht, habe dir die Verhandlungen mit den Kibbuzim beschrieben, als fände alles gerade jetzt statt, in Maagan Michael sind sie bereit, die Kids zu beherbergen, aber den Swimmingpool dort dürfen sie nicht benutzen, und in Bejt HaSchita bringen sie sie in Häusern unter mit Löchern in den Wänden, und frag nicht, was gestern passiert ist, alle Kibbuzim haben gemeinsam gefordert, dass ich sofort meine Kinder zurückhole, weil sie bei ihnen Läuse gefunden haben. Ich habe bei dir gesessen und mein Leben einfach da weitergelebt, wo es abgebrochen war. Auch ich hab mir so ein bisschen Therapie gemacht. Was dagegen?
    Sie erinnert sich: Eines Tages, als sie ihn wieder so vollquatschte,drehte er plötzlich den Kopf zu ihr und brummte: Wie geht es deinem Kind?
    Und als sie zu stottern begann, fragte er weiter: Wie alt ist er? Wie heißt er? Für einen Moment war sie wie gelähmt, dann holte sie ihren Geldbeutel aus der Handtasche und zog sein Bild heraus.
    Sein Gesicht hatte gebebt, seine Lippen unkontrolliert gezittert. Als sie das Bild zurück in den Geldbeutel stecken wollte, streckte er die Hand aus, packte sie sehr fest am Handgelenk, schaute und zitterte.
    Er ähnelt euch beiden, sagte er schließlich schnell und seine Augen traten fast aus ihren Höhlen.
    Avram, es tut mir so leid, sie konnte ihr Weinen nicht zurückhalten. Ich wusste nicht, dass du es weißt.
    Wenn man ihn anschaut, sieht man, wie ähnlich ihr euch seid.
    Ich und er? Wirklich? Ora freute sich für einen Moment; sie selbst sah kaum eine Ähnlichkeit zwischen Adam und sich.
    Du und Ilan.
    Ach so. Wie lange weißt du es schon?
    Er zuckte mit den Schultern und schwieg. Ora rechnete schnell nach: Als ihr Bauch größer wurde, hatte sie ihn nicht mehr besucht, und Ilan hatte sich allein um ihn gekümmert. Plötzlich begann sie vor Wut zu kochen: Ich will nur wissen, wann er es dir gesagt hat!
    Ilan? Ilan hat mir nichts gesagt.
    Woher weißt du es dann?
    Avram schaute sie ausdruckslos an: Ich hab es gewusst, von Anfang an hab ich es gewusst.
    Ein verrückter Gedanke kam ihr: Er wusste es im selben Moment, als ich es erfuhr.
    Und Ilan … Der weiß nicht, dass du es weißt?
    Etwas Schelmenhaftes leuchtete in seinem Gesicht auf. Seine alte Listigkeit, seine Vorliebe für verschlungene Handlungen.

    Eine ganze Weile gehen sie schon an einer schmalen Landstraße, die dennoch überraschend dicht befahren ist, und beide sind unruhig: Mindestens zwei Tage sind sie nicht mehr an so einer Straße entlanggegangen; sie haben das Gefühl, die Autos rasen zu nah an ihnen vorbei, und sie sehen sich selbst mit den Augen der Fahrer: zwei Flüchtlingein Lumpen. Für ein paar Stunden hatten sie vergessen, dass sie das waren: Fliehende, Gejagte. Avram schlurft wieder und murrt ununterbrochen; und Ora stört der verschwommene, dumme, aber hartnäckige Gedanke, dass diese abgelegene Straße über eine Unzahl anderer Straßen und Kreuzungen mit den Straßen in Bejt Zajit verbunden ist, dass durch die Nerven und Adern des Asphaltnetzes eine schlechte Nachricht von dort zu ihr durchdringen kann; doch beide beruhigen sich wieder, als sie das blau-weiß-orangene Wegzeichen sehen, auf das zu vertrauen sie in den letzten Tagen gelernt haben. Es weist sie an, nach einer kleinen Betonbrücke links abzubiegen, sich von der Straße zu entfernen, am Rand eines einladenden Feldes weiterzugehen, und beiden tut es gut, wieder lebendige Erde unter den Füßen zu spüren, auf Gras und federnde Sträucher zu treten, die sich unter den Füßen biegen und einen dann einen halben Schritt weiterschubsen, zu spüren, dass kleine Steinchen beim Handwerk des Gehens wie Späne zu den Seiten stieben.
    Der Rücken streckt sich, die Sinne öffnen sich wieder. Der Körper wacht auf, sie spürt es, er ist ein Tier

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