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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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längerer Pause wieder auf, nachdem sie sich Augen und Nase geputzt hatte und auch die giftige Pille geschluckt hatte, dass Adam sie jetzt vielleicht gerade dafür bestrafte – es war nicht das übliche Hingezogensein zu jedem männlichen Wesen, das zufällig am Haus vorbeiging, zu jedem Briefträger, der ein Päckchen brachte, mit dem er flirtete, den er bat, doch zu bleiben, und an dessen Bein er sich klammerte. Ilan hatte – nun, du kennst das ja, diese abwesende Präsenz. Und dass er in der Lage war, Adam so völlig zu ignorieren, wo doch sonst alle halb ohnmächtig wurden, weil er so süß war, das hat Adam einfach verrückt gemacht.
    Bis heute ist das so, seufzt sie und sieht Adam bei einem Auftritt auf der Bühne, wenn sich seine Augen in einer ganz privaten Ekstase, in einer Mischung von Leiden und Flehen, nach innen drehen.
    Was ist bis heute so?
    Er braucht es immer noch, dass Ilan ihn sieht.
    Nicht dass du denkst – mindestens zweimal am Tag beschloss ich, dass es jetzt reicht, Ilan muss gehn, muss aus dem Hof verschwinden, einfach, um Adam nicht weiter so zu quälen. Und andererseits, muss ich dir sagen, war ich nicht in der Lage, auf ein Tausendstel Chance zu verzichten, dass er doch noch zurückkommt. Die ganze Zeit versuchte ich auch zu verstehen, was in Ilan vorging, wenn er Adam auf dem Balkon jammern hörte. Dass ihn das nicht wahnsinnig machte, dort in seinem Schuppen. – Was für ein Mensch ist er überhaupt, sag mir das, wenn er so was aushält.
    Ja, sagt Avram und verhärtet sich.
    Und ich hab auch gedacht, vielleicht sucht er ja genau das.
    Was? brummt Avram.
    Genau diese Qual.
    Welche? Ich versteh nicht.
    Dieses Vom-anderen-Ufer-Schauen, sagt sie langsam, diesesDas-gelobte-Land-aus-der-Ferne-Sehen-und-nicht-hineingehn-Dürfen. Glaub mir, so eine Art von Qual hätte ich nicht …
    Avrams Gesicht spannt sich wirklich an, seine Augen rennen hin und her. Sein Ausdruck verändert sich. Sie bleibt stehen, legt ihm die Hand auf den Arm.
    Tut mir leid, Avram, ich wollte nicht … Geh jetzt nicht dorthin, sondern bleib bei mir.
    Ich bin bei dir, sagt er einen Moment später. Seine Stimme ist eingedickt und verkrampft. Er wischt sich den Schweiß von der Oberlippe: Ich bin hier.
    Ich brauche dich.
    Ich bin hier, Ora.
    Sie gehen schweigend. Irgendwo, nicht weit von ihnen, fließt eine Straße, man hört schon die Autos. Avram nimmt sie wahr, wie ein Träumender die Geräusche des Hauses zu hören beginnt, das vor ihm erwacht.
    Ich habe ihn verachtet, fährt Ora fort, und manchmal hatte ich Mitleid mit ihm wie mit einem Schwerbehinderten. Ich habe ihn gehasst und mich nach ihm gesehnt, und ich wusste, dass ich etwas tun musste, um ihn daraus zu befreien, aus diesem Fluch, den er über sich selbst und über uns gebracht hat. Doch ich hatte nicht die Kraft, irgendetwas zu tun. Gar nichts.
    In dieser ganzen Zeit, versteh, da haben Ilan und ich weiter telefoniert, mindestens zweimal die Woche, denn wir hatten ja auch dich. Etwa einmal im Monat hattest du noch eine kleine Operation, letzte kosmetische Reparaturen, und diese zahllosen Absprachen mit dem Sicherheitsministerium, und die Wohnungssuche für dich in Tel Aviv. Zweimal die Woche bin ich zu dir gefahren, um bei dir zu sein, und Ilan an allen anderen Tagen. Du hattest keine Ahnung von uns, das haben wir zumindest geglaubt. Nicht davon, dass wir ein Kind hatten, nicht davon, dass wir uns getrennt hatten, und auch nicht von Ilans Umzügen kreuz und quer durch Jerusalem. Sag mal …
    Was?
    Hast du überhaupt noch Erinnerungen an diese Zeit?
    Ob ich mich noch erinnere? Ja.
    Wirklich? Ora bleibt stehen.
    An fast alles.
    Aber woran genau? Sie rennt hinter ihm her: An die Behandlungen, an die Operationen, an die Verhöre?
    Ora, ich erinnere mich an diese Zeit, an fast jeden Tag.
    Ich habe bei dir gesessen, macht sie sofort weiter – die neue Information ist zu groß, zu erschreckend, als dass sie sie aufnehmen könnte. Sie kann im Moment nicht darauf reagieren, später, später –, und habe dir Geschichten von Ilan und mir erzählt, als hätte sich bei uns nichts verändert. Als wären wir noch immer Kinder im Alter von zweiundzwanzig, wie an dem Tag, als du uns verlassen hast, als wären wir an genau der Stelle stehengeblieben, um auf dich zu warten, bis du zurückkommst. Als hätten wir uns nicht bewegt.
    Sie gehen schnell, aus irgendeinem Grund rennen sie beinah.
    Nicht, dass du Interesse gezeigt hättest, daran erinnert sie ihn wieder. Du hast in

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