Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Ungeduld und Wut im Gesicht, wild gestikulierend, wie einer, der gleich erstickt und nach Luft ringt. Sie hatte gespürt, wie ihre Augen ihm gegenüber glasig wurden: Erklär’s mir nochmal, Avram. Erklär’s mir langsamer. Und dann die immer dunkler werdende Verzweiflung in seinem Blick, die Einsamkeit– das Exil –, in das ihre Zweifel, ihre Vorsicht und ihre zu kurzen Flügel ihn verstießen. Seine Feindseligkeit ihr gegenüber in diesen Momenten. Vielleicht, weil er dazu verdammt war, sich so dermaßen in eine Frau zu verlieben, die ihn nicht auf Anhieb – »nur mit einer Anspielung und einem leisen Zucken im Gesicht« – verstand, zitierte er Brenner, und auch Brenner hatte sie nicht gelesen, sein ganzer Roman Verlust und Scheitern , hatte sie gesagt, deprimiert mich zu sehr. Und trotzdem hatte er sie geliebt, trotz Brenner und Melville und Camus und Faulkner und Nathaniel Hawthorne. Er liebte sie, begehrte sie und verlangte nach ihr, er klammerte sich an sie, als hinge sein Leben von ihr ab, und auch darüber möchte sie hier mit ihm reden, hier auf ihrer Wanderung, morgen vielleicht oder übermorgen, er soll ihr endlich erklären, was er wirklich an ihr gefunden hat, und sie daran erinnern, was sie damals noch besaß, vielleicht konnte sie etwas davon noch immer selbst gebrauchen.
Sie wird nervös. Gedankenblitze fliegen in ihr hin und her. Sie steht auf: Gibt’s hier irgendwo ein Mädchenklo?
Er weist mit der Stirn ins Dunkel. Sie nimmt eine Rolle Papier und entfernt sich. Hinter einem dichten Busch hockt sie sich hin und pinkelt. Tropfen spritzen auf Schuhe und Hose. Morgen früh muss ich duschen und Wäsche waschen, denkt sie und wagt es, einen Moment nachzurechnen, was sie verpasst hat: Noch achtundzwanzigmal ihm nackt gegenüber gesessen zu haben und in seinem Blick zu lesen, wie er sie sieht. Zu sehen, wie sich über die Jahre die Wörter, mit denen er sie beschreibt, veränderten, Schatten über einer vertrauten Landschaft. Vielleicht hätte das Altern in seinen Worten weniger weh getan. Andererseits, da hatte sie keinen Zweifel, in seinen Worten hätte es ihr mehr weh getan.
Nachdem sie ihr Geschäft erledigt hat, lehnt sie sich im Dunkeln an einen dünnen Baumstamm. Umarmt sich in plötzlicher Einsamkeit. Bilder ihrer selbst im Laufe der Jahre blättern sich vor ihr auf. Ora als Jugendliche, Ora als Soldatin, schwanger, Ora und Ilan, Ora mit Ilan, Adam und Ofer, Ora mit Ofer, Ora allein. Ora allein mit all den Jahren, die noch kommen werden. Wer weiß, was er heute in ihr sieht. Vor ihr tanzen gemeine Worte: trocken, verdorrt, Venen, Muttermale, Fett, Lippen, ihre eine Lippe, Brüste, schlaff, Flecken, Fleisch, Fleisch.
Sie sieht ihn im rötlichen Licht der Glut. Er steht auf, holt aus der Tasche ihres Rucksacks die beiden Becher, reibt sie mit einem Hemdzipfel. Er gießt Wasser in das verrußte Kaffeetöpfchen mit dem langen Stiel. Schau, er macht ihr einen Kaffee. Er schiebt das Notizbuch ein bisschen weg, damit es nicht nass wird. Seine Finger verweilen einen Moment auf dem blauen Umschlag, betasten die Textur. Sie hat den Eindruck, dass er mit dem Daumen heimlich prüft, wie dick es ist.
In den Tagen und Wochen nachdem sie mit ihm in seiner Wohnung in Tel Aviv geschlafen hatte, begann er wieder zu welken, starrte stundenlang das Fenster oder die Wand an, ließ sich gehen, duschte nicht, rasierte sich nicht, nahm das Telefon nicht ab. Er versuchte auch, Ora zu meiden. Zuerst erfand er alle möglichen Ausflüchte, danach bat er sie ausdrücklich, nicht zu kommen. Wenn sie es trotzdem tat, warf er sie möglichst bald wieder raus. Er achtete darauf, nicht allein mit ihr in der Wohnung zu sein. Sie erschrak. Ihre Gedanken kreisten ununterbrochen um ihn und um das, was an jenem Abend passiert war. Wochenlang konnte sie kaum etwas anderes tun. Je mehr er ihr entfloh, desto mehr war sie verdammt, ihm nachzujagen. Immer wieder versuchte sie, ihm die Angst vor sich zu nehmen, ihm zu erklären, dass sie nichts von ihm wolle, außer dass sie und er wieder so sein könnten wie früher. Er schmetterte sie ab, verleugnete sie. Weigerte sich standhaft, über jenen Abend zu reden.
Eine Weile später entdeckte sie, dass sie schwanger war, und nach einem Monat gelang es ihr endlich, Avram davon zu erzählen. Für einen Moment erstarrte er vor ihr. Sein Gesicht verschloss sich, und das bisschen Leben, das es hatte, war mit einem Schlag verschwunden. Er fragte, ob sie wisse, wo sie abtreiben lassen
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