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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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ein bisschen auf, was tut gut?
    Das Schreiben.
    Das hab ich auch schon mal gehört, fasst er bitter zusammen und dreht den Kopf weg.
    Er, der sein Leben lang, bis es abgeschnitten wurde, geschrieben hat – denkt sie mit beißender Reue –, wirklich bis zum letzten Moment, als die Ägypter kamen und ihm den Stift aus der Hand genommen haben. Von seinem sechsten Lebensjahr bis er zweiundzwanzig war, hat er immer nur geschrieben. Und mehr denn je zuvor, nachdem er Ilan getroffen hatte, an dem er mit ganzer Seele hing. Der hatte ihn so richtig auf Touren gebracht, das weiß sie, denn plötzlich war da einer, der ihn wirklich verstand, mit ihm wetteiferte, ihn herausforderte, mehr und immer mehr zu wagen. Sie dachte daran, was in diesen sechs Jahren aus ihm hervorgesprudelt war, seit er Ilan im Krankenhaus begegnet war – okay, ihnen beiden, Ilan und ihr: Theaterstücke, Gedichte, Geschichten, Sketche und vor allem Hörspiele; die hatten er und Ilan mit diesem klobigen Akai Tonbandgerät im Schuppen in Zur Hadassa aufgenommen. Sie erinnert sich an eine Serie mit mindestens zwanzig Kapiteln – Avram mochte entsetzlich lange Texte – über eine Welt, in der alle Menschen am Morgen Kinder waren, mittags Erwachsene und abends Alte, und das jeden Tag von neuem. Es gab ein Hörspiel in Fortsetzungen, das eine Welt beschrieb, in der die Menschen nur im Schlaf durch ihre Träume absolut ehrlich und offen miteinander kommunizieren – und nichts davon wissen, wenn sie wach sind. Und es gab noch eine Serie – die gelungenste, meinte Ora – von einem jazzbegeisterten Jugendlichen, der vom Deck eines Schiffes aufs weite Meer gespült wird und auf einer Insel bei einem Stamm strandet, dessen Angehörige keinerlei Form von Musik kennen, noch nicht einmal Pfeifen oder Summen, und denen eröffnet er nach und nach eineihnen unbekannte Welt. In fast allem, was Avram und Ilan machten, schufen sie eine Welt. Meistens brachte Avram die Idee, und Ilan versuchte, so gut er konnte, sie in der Realität zu verankern, beteiligte sich natürlich auch am Schreiben und spielte auf dem Saxophon die »musikalische Untermalung« oder griff dafür auf seine vielen Schallplatten zurück. Ein ganzer Strom von Ideen und Erfindungen brach damals aus Avram hervor, »mein goldenes Zeitalter«, hatte er es mal genannt, nachdem es vorüber war. Zu seinem zwanzigsten Geburtstag hatte sie ihm seinen ersten kleinen Ideenblock gekauft. Sie konnte nicht länger zusehen, wie er auf der verzweifelten Suche nach seinen Zettelchen das Haus auf den Kopf stellte und alle Hosentaschen (auch ihre) umkrempelte. Wo immer er ging, umflatterte ihn eine Wolke von Zettelchen. Auf das Deckblatt des Blocks hatte sie ihm einen Limerick geschrieben: »Avram, ein feiner Geselle/ sprudelt immer wie eine Quelle/ aktuell und speziell/ doch vergisst er sehr schnell/ dieser Block hilft ihm nun auf der Stelle.« Binnen zwei Monaten hatte er den Block vollgeschrieben und bat sie, ihm auch einen weiteren zu kaufen. Du inspirierst mich, sagte er, und sie hatte wie immer gelacht: Moi? Mit meinem sehr geringen Verstand wie Pu der Bär? Sie wusste wirklich nicht, was an ihr inspirierend sein konnte, und er hatte sie liebevoll angeschaut und gesagt, jetzt weiß ich, wie das Lachen von Sarah in der Bibel geklungen hat, als man ihr – mit neunzig – die Botschaft brachte, sie werde Isaak gebären. Und dann sagte er noch, sie habe wohl gar nichts kapiert, weder von ihm noch von Inspiration. Seitdem kaufte Ora ihm seine Ideenblocks. Klein mussten sie sein und in die Gesäßtasche seiner Jeans passen. Er hatte sie immer bei sich, auch nachts, und in jedem Bett, in dem er schlief, gab es mindestens einen Kuli, um seine Ideenergüsse im Halbschlaf festzuhalten. Diese kleinen Blocks waren schlicht, darum hatte er gebeten, ohne Firlefanz, und trotzdem freute er sich, wenn sie ihm immer einen anderen aussuchte, in etwas anderer Art oder anderer Farbe, doch das Wichtigste blieb, dass er sie von ihr bekam. Sie mussten von ihr kommen, hatte er betont und sie so dermaßen dankbar angeschaut, dass es ihr einen Stich versetzte. Jedes Mal wenn sie diese Blöckchen aussuchte, war es ein feierlicher Akt. Sie ging in verschiedene Schreibwarengeschäfte, zuerst in Haifa, nach der Armee in Jerusalem, ihrer neuen Stadt, suchte einen Block,der in dieser bestimmten Phase zu ihm passen würde, genau zu der Idee, über die er gerade schrieb, zu seiner Stimmung. Noch größer war ihre Freude, wenn sie ihm das neue

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