Eine Frau flieht vor einer Nachricht
alles blüht. Aber man muss ja weitergehn, nicht wahr? Wieder lächelte er sie an. Sie hatte den Eindruck, dass sich sein Gesicht ihr erst nach und nach offenbarte, als zeichne sie es vor ihren Augen im langsamen Tempo ihres Begreifens.
Haben Sie unten geschlafen? Er ließ nicht locker. Warum ließ er nicht von ihr ab? Er soll sie weitergehen lassen. Sie lächelte hilflos, wusste nicht, ob sie sich über ihn ärgern sollte – über diese lächerliche Brille, wie ein provokativer privater Witz, mit dem er vor den Augen aller rumwedelte – oder ob sie auf die natürliche, abgeklärte Sanftheit, die sie bei ihm wahrnahm, reagieren sollte.
Ja, unten, aber wir haben nur … Was sagten Sie, wohin führt dieser Weg?
Nach Eilat. Jetzt fügten sich zu seinem Gesicht dicke Augenbrauen hinzu und kurzes, dichtes silbriges Haar.
Und auch nach Jerusalem? fragte sie.
Das liegt fast am Weg, aber bis dahin haben Sie’s noch weit. Wieder lächelte er, wie nach jedem Satz. Blendendweiße Zähne sah sie, volle dunkle Lippen mit einer tiefen Kerbe in der Unterlippe. Sie spürte ein undeutliches Murren in Avrams Körper. Der Mann warf ihm einen vorsichtigen Blick zu.
Brauchen Sie irgendetwas? fragte er, und Ora begriff, dass er sich Sorgen um sie machte, dass er fürchtete, sie befände sich in irgendeiner Not, dass sie vielleicht sogar Avrams Geisel sei.
Nein, sagte sie, indem sie sich aufrichtete und mit ihrem ganzen Charme lächelte, bei uns ist alles okay, wir sind bloß noch ein bisschen verschlafen.
Da wachte sie plötzlich auf, fuhr sich mit beiden Händen durch ihr wirres Haar – sie hatte sich am Morgen, bevor sie losgingen, noch nicht einmal gekämmt, und es reute sie nun, dass sie im letzten Jahr aus Prinzip aufgehört hatte, sich die Haare zu färben, und sie wischte sich eilig die Augenwinkel und prüfte, dass an ihrer einen Lippe kein Krümel hing.
Hört mal, sagte der Mann, ich mach mir einen Kaffee, wollen Sie auch einen?
Avram brummte sofort ablehnend. Ora schwieg. Gegen einen Kaffee hätte sie jetzt nichts gehabt; sie hatte so ein Gefühl, dass er einen guten Kaffee kochen würde.
Sagen Sie …
Ja?
Was ist das hier für ein Ort?
Dieses Wadi hier, meinen Sie? Das ist der Nachal Kedesch. Wieder lächelte er und fragte: Sie wissen nicht, wo Sie sind?
Nachal Kedesch, murmelte sie, als enthielten diese Worte ein Wunder.
Es ist gut, in der Natur zu sein, sagte er bekräftigend.
Ja, das stimmt. Sie ist verzweifelt über ihr Haar, aber was soll’s, sie wird ihn im Leben nicht wiedersehen.
Und es ist gut, ein bisschen vor den Nachrichten zu fliehen, fügte er hinzu, vor allem nach dem, was gestern war.
Avram stieß etwas aus, was wie ein Warnbellen klang. Der Mann wich einen Schritt zurück, sein Blick wurde bohrend.
Ora legte Avram die Hand auf die Schulter, beruhigte ihn mit ihrer Berührung.
Keine Nachrichten, bitte, brummte Avram.
In Ordnung, sagte der Mann vorsichtig, Sie haben recht. Hier braucht man die Nachrichten nicht.
Wir müssen weiter, sagte Ora, ohne ihn anzuschauen.
Sie brauchen wirklich nichts? Seine Augen wanderten über ihr Gesicht. Jetzt bemerkte er ihre Lippe, sie kannte das schon, wenn der Blick des anderen plötzlich scharf stellte, und sie hatte gelernt, dass sie in dieser Situation den Fremden gegenüber einen kleinen Vorteil hatte, wenn sie sie mit dem eigenen Blick fesselte und dabei in Ruhe betrachten konnte. Und dieser Mann hier, der schreckte nicht zurück, er zeigte vielmehr eine irritierende Mischung von Staunen, Zuneigung und Zartheit, und Ora meinte, gleich würde er den Finger, der den Riemen des Rucksacks hielt, ausstrecken, um ihr da drüberzufahren. Für die Dauer eines Lidschlags atmete sie einen Atemzug der Güte, doch sie hatte nicht mehr die Kraft, ihre Mundwinkel zu einem Lächeln hochzuziehen.
Wir sind wirklich okay, wiederholte Ora. Mit aller Kraft zwang sie sich, nicht zu fragen, was gestern in den Nachrichten gewesen sei. Ob man schon Namen bekanntgegeben habe.
In jedem Fall … begann der Mann.
Avram setzte sich in Bewegung, weiter den Hang hinauf, und ging an ihm vorbei. Auch Ora ging an ihm vorüber und senkte den Kopf.
Ich bin Arzt, sagte der Mann leise, nur für ihre Ohren, falls Sie etwas brauchen.
Arzt? Sie zögerte. Es schien, als übermittele er ihr eine geheime Botschaft. Gab er ihr vielleicht einen Hinweis, dass Ofer einen Sanitäter brauchte?
Kinderarzt, sagte er. Seine Baritonstimme klang angenehm ruhig, sein Blick war konzentriert und
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