Eine Frau flieht vor einer Nachricht
seine Hüllen, und auf irgendeine Art ist es auch sein Innerstes, seine Wärme, seine Feuchtigkeit.
Sie beugt sich vor und vergräbt ihr Gesicht im Rucksack. Der Geruch sauberer, zusammengepresster, nicht gelüfteter Kleider. Gemeinsam hatten sie sie eingepackt, bevor sie losgehen wollten, sie und er, und sich dabei an die Einpackzeremonie am Abend vor der großen Schlacht in Der Wind in den Weiden erinnert, das Ora ihm dreimal vorgelesen hatte, als er noch ein Kind war: Ein-Hemd-für-den-Schmetterling, die-Strümpfe-für-den-Kröterich; und nun wurde ihr klar, dass während der gesamten Dauer dieser munteren Zeremonie, bei der Ora nicht aufhören konnte zu lachen, Ofer bereits seinen Plan ausgeheckt und vielleicht sogar schon gewusst, ja, gewusst hatte, dass er nicht mit ihr zu diesem Ausflug aufbrechen würde, dass das alles eine riesige Show war. Wie hatte er es geschafft, sie dermaßen zu betrügen, und warum, warum hatte er das getan? Hatte er Angst gehabt, eine ganze Woche mit ihr könne langweilig werden, der Gesprächsstoff könne ihnen ausgehen, oder dass sie ihn wieder wegen Talia und ihrer Trennung verhören würde, sich bei ihm vielleicht über Adam beklagen oder versuchen würde, ihn gegen Ilan auf ihre Seite zu ziehen (so etwas hätte sie nie getan!), oder fürchtete er sich, dass sie ihn noch einmal auf die Sache in Hebron ansprechen würde? Ja, das wird es wohl vor allem gewesen sein.
Bei dieser langen Liste wird ihr übel. Ein Säureschwall steigt in ihr auf. Ihr Gesicht versinkt im Rucksack, den sie mit den Armen fest umschlingt. Von der Seite sieht sie aus, als tränke sie durstig aus einer Quelle, doch Avram bemerkt, dass ihre zarten Halswirbel unter der Haut krampfartig zucken.
Unkontrolliert weint sie in ihn hinein, überwältigt von Selbstmitleid über ihr zerstörtes Leben, die Familie, die Liebe. Über Ilan. Adam.Und jetzt ist auch noch Ofer dort – Gott behüte. Was bleibt von ihr selbst übrig, und wer ist sie überhaupt noch, wenn sie sich alle zurückziehen oder sich einfach von ihr losreißen. Was ist ihre ganze tolle Mutterschaft dann wert gewesen? Eine elende Lumpenexistenz mit der Lebensweisheit eines alten Aufnehmers? Fünfundzwanzig Jahre lang hatte sie vor allem aufgesogen. Alles, was von den Dreien runterprasselte, von jedem auf seine Art. Alles, was sie in diesen Jahren in den Raum der Familie hinausspülten, also in sie. Denn mehr als jeder andere von ihnen, mehr als sie alle drei zusammen, war doch sie selbst der »Raum der Familie«. Alles Gute und alles Schlechte, was sie absonderten, vor allem das Schlechte, hat sie aufgenommen. Sie weint, quält sich weiter und weiß doch auf dem Grund ihrer Seele, dass sie verfälscht; sie versündigt sich an ihnen und an sich selbst, aber sie ist nicht bereit, auf diese Bitterkeit zu verzichten: So viele Gifte und Säuren hat sie aufgesogen, alle Ausscheidungen ihrer Seelen und Körper, den ganzen Ballast ihrer Kindheit, Jugend und ihres Mannseins. Irgendwer hat das alles doch aufsaugen müssen, oder? jammert sie in die Hemden und Socken, die sich tröstend an ihr Gesicht schmiegen. Wie angenehm ist diese Berührung, wie angenehm der Duft der frischen Wäsche, obwohl er ihr mit spöttischer Weichheit entgegenschleudert, du Möchtegernfeministin. Eine Beleidigung für den Kampf der Frauen ist sie, fühlt sich wie ein blinder Fleck in dem grellen Neonlicht, das zum Beispiel jene Bücher gegen sie richten, die ihre Freundin Ariela ihr unverdrossen kaufte – sie konnte nie mehr als ein paar Seiten darin lesen, sie waren von energischen, klugen und selbstgewissen Frauen geschrieben, die Ausdrücke wie die »Dualität des Kitzlers als Bezeichnung und Bezeichnetes« oder »die Vagina als männlich codierter deterministischer Raum« ganz unbefangen formulierten, was in ihrem geringen und charakterlosen Verstand sofort das Summen von Maschinen oder Haushaltsgeräten auslöst, etwa von einem Mixer, Staubsauger oder Geschirrspüler. Für diese Frauen und deren gerechten Kampf ist allein schon ihre schlappe Existenz eine grobe Beleidigung. Verfickter Feminismus, denkt Ora, lacht ein bisschen beim Weinen; aber ist es nicht völlig klar, argumentiert sie weiter, dass ohne ihre Mechanismen der Kanalisierung, der Entsorgung, der Reinigung und Entsalzung, die sie pausenlos weiterentwickelte, ohne ihre zahllosen Zugeständnisse,dass ohne all das, und wenn sie nicht immer wieder geschluckt und ihre eigene Ehre hintangestellt und hier und da eben den
Weitere Kostenlose Bücher