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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Kopf eingezogen hätte, ihre Familie viel früher auseinandergebrochen wäre? schon vor Jahren, ganz bestimmt; oder vielleicht auch nicht? – wer weiß. Doch hatte all die Jahre in ihr die Frage rumort, was passiert wäre, wenn sie sich nicht bereiterklärt hätte, die Kloake für ihre Familie zu sein, oder anders, weniger beleidigend und ein bisschen raffinierter gesagt, wenn sie nicht ihr Blitzableiter gewesen wäre? Wer sonst hätte sich bereitgefunden, diese mühsame und undankbare Aufgabe zu übernehmen? Obgleich die daraus erwachsende verborgene Befriedigung groß war? Aber davon haben sie ja keine Ahnung, die drei, wie sollten sie auch. Was wussten die schon von dem süßen Gefühl, wenn es ihr mal wieder gelungen war, ein Zorngewitter abzuleiten, eine Enttäuschung, Kränkung, den Wunsch nach Rache oder einfach so ein momentanes Elend bei einem ihrer drei zu beruhigen, ganz gleich in welchem Alter. Sie weint noch eine Weile in die gewaschenen Stoffe, doch der Schmerz hat sich bereits in Tränen gelöst, und sie wischt sich das Gesicht mit dem T-Shirt ab, das Ofers Einheit am Ende des Dienstes in dem Camp bei Jericho unter ihren Soldaten verteilt hatte, mit dem Aufdruck Nebi Mussa, denn die Hölle wird grade renoviert . Schon ist sie getröstet und sogar erfrischt, wie immer nach kurzem, heftigem Weinen, genau wie im Bett: ein paar Berührungen, schon geht sie ab, immer, ohne Verzögerung und Komplikationen. Nachdem diese Wolke vorübergezogen ist, meldet sich wieder ihr Trieb, tief in Ofers Rucksack einzutauchen, seine Sachen in die Hand zu nehmen, sie hier auf Büschen und Steinen vor Avram auszubreiten, damit er ahnen kann, wie groß, wie breit, wie kräftig Ofer ist. Eine Erregung zieht durch ihren ganzen Körper: Wenn sie sich nur wirklich anstrengt – für einen Moment glaubt sie schon fast, dass ihr auf dieser Reise, die aus lauter feinen Weben von Beschwörungen und Wünschen besteht, alles möglich ist –, dann könnte sie Ofer selbst aus dem Rucksack herausziehen, ihn von neuem gebären, winzig, zart, mit zappelnden Armen und Beinen. Doch im Moment begnügt sie sich mit seiner Mütze vom Militär, der Trainingshose, der Pumphose. Sie fühlt sich gut. Bis zu den Oberarmen im Rucksack versunken, wie eine Bäckerin vom Dorf im Backtrog, knetet sie ihr Kind aus den Kleidern. Aber schonkommt ihr Grübelgedanke und schießt ihre Wonnen wieder ab, es ist auch ein bisschen so, als wühlte sie in seinem Nachlass. Erst da, das Kinn über dem Rand des Rucksacks, das Gesicht zwischen Wandersocken vergraben, erinnert sie sich wieder, wo sie ist, schaut Avram mit erschreckten Augen an und sagt, hör zu, ich bin so blöd, ich habe das Notizbuch dort liegengelassen.
    Wo?
    Da unten. Wo wir geschlafen haben.
    Wie kommst du da drauf?
    In der Früh, bevor du aufgestanden bist, hab ich ein bisschen geschrieben und es dann irgendwie liegenlassen.
    Dann gehen wir zurück.
    Wieso zurück?
    Wir gehen zurück, sagt Avram und richtet sich auf.
    Das ist ein ganz schönes Stück Weg.
    Na und?
    Sie zieht die Nase hoch. Ich bin ja so blöd.
    Macht doch nichts, Ora, das macht wirklich nichts. Er lächelt sie an und sagt: Wir laufen doch schon eine Woche fast immer im Kreis.
    Er hat recht, und ihr wird warm bei dem Gedanken, dass nur sie beide verstehen können, wie vollkommen gleichgültig es ist, ob man hin- oder zurückgeht, sich im Kreis dreht, sich verirrt, Hauptsache in Bewegung, Hauptsache über Ofer reden. Sie packen zusammen, verknoten, schnallen fest. Bei dem kleinen Militärstützpunkt holen sie sich frisches Wasser, und der Soldat vom Wachturm schenkt ihnen noch zwei Laib geschnittenes Brot, schon ein bisschen trocken, drei Dosen Thunfisch und Mais, und Hände voll Äpfel, und sie steigen weiter bergab, halten sich an Kiefernzweigen fest, und Ora muss dauernd an den Mann denken, den sie am Morgen getroffen haben, an sein langes, dunkles, weises Gesicht. Was hat er wohl über sie und Avram gedacht, was für eine Geschichte hat er sich in seinem Kopf zurechtgezimmert? Und plötzlich bleibt sie entsetzt stehen, und Avram läuft fast von hinten in sie rein: Wenn er das Notizbuch gefunden und darin gelesen hat, was dann?
    Zwischen zwei Felsen erinnert sie sich. Ich hab es nur für einen Moment aus der Hand gelegt, als ich am Morgen den Schlafsack zusammengerollthabe, und dann hab ich es vergessen. Wie konnte ich es vergessen?
    Mit ein bisschen Glück, sagt sie laut, vielleicht zu laut, findet es keiner, bis wir da

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