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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sind.

    Es war am Morgen gewesen, sehr früh. Sie und Avram waren aus der Schlucht hochgekraxelt, als ihnen eine Gestalt entgegenkam; vielleicht erschien sie Ora deshalb am Anfang größer und schmaler, als sie wirklich war. Wegen des merkwürdigen Lichts, das zwischen den Eichenzweigen hindurchschimmerte, so ein gelbliches, staubiges Sonnenaufgangslicht, wirkte die Gestalt dunkel und unscharf. Einen Moment war Ora stehengeblieben, hatte sie betrachtet und sich überlegt, dass man manchmal morgens, wenn einem ein Mensch entgegenkommt und hinter ihm die Sonne blendet, nur die Umrisse seines schmalen Körpers sehen kann, wie eine Giacometti-Figur, die sich bei jedem Schritt auflöst und wieder zusammenfügt; dann kann man nur schwer ausmachen, ob es ein Mann oder eine Frau ist, ob die Figur einem entgegenkommt oder sich entfernt – dann hatte sie plötzlich purzelnde Steine hinter sich gehört, mit einem Satz war Avram zur Stelle gewesen, hatte sie überholt und sich zwischen ihr und dem Fremden, der etwas perplex lächelte, aufgepflanzt.
    Avrams Bewegung hatte sie durcheinandergebracht. Er hatte schwer atmend zwischen ihnen Position bezogen, sich aufgepumpt und einen eigensinnigen Blick aufgesetzt, den er nicht auf den Mann vor sich, sondern auf die Steinchen auf der Erde richtete. Wie ein Wachhund hatte er da gestanden und treu, hartnäckig und unbeholfen sein Frauchen beschützt.
    Die Männer standen einander gegenüber. Avram versperrte den Weg und konnte nun selbst nicht weiter. Der Fremde räusperte sich, sagte vorsichtig guten Morgen, und Ora antwortete schwach, guten Morgen. Sie kommen von unten? Der Mann stellte eine überflüssige Frage, aber Ora nickte. Auch sie schaute ihn nicht an. Sie fühlte sich nicht in der Lage, irgendeinen Kontakt aufzunehmen, und sei er nur ganz oberflächlich. Sie wollte mit Avram weitergehen und über Ofer reden, alles andere lenkte bloß ab und war Kräfteverschwendung. Auf Wiedersehn, stieß sie aus und wartete, dass Avram weiterging, dochAvram rührte sich nicht vom Fleck, und der Mann räusperte sich noch einmal und sagte, wenn Sie oben ankommen, werden Sie sehen, wie schön es dort blüht, ganze Teppiche von Ginster, und auch der Judasbaum blüht jetzt, doch Ora schaute ihn erschöpft an, was hatte der im Kopf, von was für Blüten sprach der. Er war etwa in ihrem Alter, ein bisschen älter, etwas über fünfzig, braungebrannt, stämmig und ziemlich abgeklärt. Sie betrachtete sich und Avram durch seine Augen und spürte, sie strahlten das Elend von Verfolgten aus, irgendein Unglück schwebte über ihnen. Der Mann schob zwei große markante Daumen unter die Riemen seines Rucksacks, zögerte wohl, ob er ihn absetzen sollte. Ora trat auf der Stelle. Plötzlich wurde ihr klar: Was ihr in diesen Tagen Halt gab, was ihren Körper aufrecht und ihre Seele zusammenhielt, war dieses gemeinsame Reden und Nachdenken über Ofer mit Avram. Das war ihr Sauerstoff, ihre Nahrung und ihr Wasser, etwas anderes brauchte sie nicht, und ohne das würde sie zu Boden fallen und zerkrümeln.
    Dann machen Sie den Weg?
    Wie bitte, fragte sie leise, welchen Weg?
    Den Israel-Weg, sagte er und zeigte auf die blau-weiß-orangefarbenen Wegzeichen auf einem der Steine.
    Was ist das, sagte sie und hatte keine Kraft, ihre Stimme zu einem Fragezeichen zu krümmen.
    Ach so, sagte der Mann, ich dachte, Sie …
    Wohin führt dieser Weg denn? fragte Ora nun drängend. Zu viele Dinge musste sie jetzt gleichzeitig verstehen. Das plötzliche Lächeln, das sein langes ernstes Gesicht in zwei Teile spaltete. Die warme Olivenfarbe seiner Haut. Und die Art, wie Avram noch immer trennend zwischen ihnen stand, als Wand von Mensch. Und vielleicht auch die zusammengerollte Zeitung, die aus einer Rucksacktasche des Fremden herausschaute. Außerdem baumelte eine große Damenbrille, ihrer eigenen ähnlich, aber ihre war rot, und diese war blau, an einer Schnur auf seiner Brust und passte so gar nicht zu ihm, und das machte sie aus irgendeinem Grund unglaublich nervös. Dass er gesagt hatte, dieser schlichte und vertraute Weg, auf dem Avram und sie seit einer Woche gehen, habe einen Namen, jemand habe ihm einen Namen gegeben, das hatte ihr auf einen Schlag etwas geraubt.
    Der führt bis nach Eilat, sagte er, bis Taba. Quer durchs ganze Land.
    Und wo fängt er an?
    Im Norden, ungefähr bei Tel Dan. Ich mach ihn schon eine Woche, geh eine Weile, geh wieder zurück, laufe im Kreis. Ich mag mich nicht von dieser Gegend trennen, wo

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