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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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zum Beispiel in seiner Wohnung, in dieser Armut, in der Verlassenheit seines Lebens: Das Wort »Leben« stellt sie sich aus irgendeinem Grund mit dem orientalischen rollenden »l« vor, das sie bei dem Mann im Wadi gehört hat. Sie denkt an sein rotkariertes Hemd, es sah aus, als hätte ihm morgens jemand schöne Sachen angezogen und ihn dann auf einen Ausflug geschickt. Wieder stieß sie sich an seiner auf der Brust baumelnden bunten Damenbrille. Vielleicht war es gar keine geschmacklose Eitelkeit und auch keine provokative Manifestation, wie sie gemeint hatte, sondern eine kleine, ganz persönliche Hommage. Die Huldigung an eine Frau? Sie seufzt leise, fragt sich, ob Avram wohl etwas mitbekommen hat.

    Ohne dass sie es bemerken, entspinnt sich zwischen ihnen ein Gespräch. Das Gespräch zweier Menschen, die unterwegs sind. Avramfragt, warum sie beschlossen hätten, ihn Ofer zu nennen. Ora sagt, sie hätte das allein beschlossen. Und warum gerade Ofer? Gefällt dir das nicht, fragt sie mit einem enttäuschten, vorwurfsvollen Unterton, und Avram versichert schleunigst, Ofer gefalle ihm sehr, das sei ein ausgezeichneter Name, ich versteh nur nicht … Was verstehst du nicht? Ich versteh nicht, wie man überhaupt den Namen für ein Kind wählt, wie trifft man eine so große Entscheidung? Und Ora, mit einem neuen Behagen, denn erst in den letzten Minuten hat sie wieder richtig durchgeatmet, sagt, das ist wirklich schwierig. Zum Beispiel bei Adam dachten wir lange, wir würden ihn Michael nennen, ich habe mir so sehr einen Jungen mit dem Namen Michael gewünscht; seit ich klein war, wollte ich das, aber in dem Moment, wo ich ihn sah, hab ich gesagt, das ist kein Michael. Er war einfach kein Michael. Aber ein Adam ist er? staunt Avram, das versteh ich nicht, was ist der Unterschied, erklär mir das. Und sie: Was gibt’s da zu erklären, entweder es passt, oder es passt eben nicht. Du schaust das Kind an und weißt es. Da blitzt in Avram ein merkwürdiger Gedanke auf: Schade, dass sie ihn wegen Ofers Namen nicht gefragt haben, aber wie hätten sie ihn fragen können, gibt er sich selbst die Antwort, du hast sie ja nicht an dich rangelassen, hast sie ja richtig weggebissen, und trotzdem, wenn sie es wenigstens versucht hätten, nur ein letztes Mal.
    Im Camp, im Sinai, sagt er, hatten wir einen, Ofer Chavkin, das war ein ganz besonderer Typ. Der ist allein durch die Wüste gewandert, hat den Vögeln was auf seiner Geige vorgespielt und in Höhlen geschlafen, der hatte vor nichts Angst, so eine freie Seele. Ich hab all die Jahre gedacht, Ilan hätte diesen Ofer im Kopf gehabt, als ihr ihm seinen Namen gegeben habt. Ora genießt noch einen Moment seine Formulierung »eine freie Seele«, dann kehrt sie zurück und wiederholt, nein, ich war das, ich habe das beschlossen. Ich mochte dieses Wort »ofer« für »Hirsch« in diesem schönen Vers im Hohelied: Mein Freund gleicht einem jungen Hirsch, und ich mochte auch den Klang, Ofer, so sanft, und Avram wiederholt den Namen im Stillen auf ihre Melodie und sagt danach leise und mit Ehrfurcht, ich wäre im Leben nicht dazu in der Lage, jemandem einen Namen zu geben. Deinem Kind schon, sagt sie, es rutscht ihr raus, und beide verstummen.
    Sie gehen. Der Weg ist breit und bequem. So viele Farben, stauntsie, und fast eine Woche lang hab ich nur Weiß, Grau und Schwarz gesehen. Sag mal, sagt er nach einer Weile, das ist reine Neugier, aber habt ihr auch noch andere Namen erwogen? Da gab es viele, sagt sie und denkt, er ist mit »Ofer« trotzdem nicht ganz glücklich. Juval, Ro’i, Ron. Und sie fügt lachend hinzu: Juval war der Favorit, fast bis zum Schluss.
    Juval? Avram probiert den Namen ohne Stimme, nur mit den Lippen. Juvali?
    Wir hatten auch Mädchennamen. Wir wussten ja nicht, was es würde. Bis zur Mitte der Schwangerschaft war ich mir sicher, dass es ein Mädchen ist.
    In Avram erhebt sich flatternd ein ganzer Schwarm Vögel: An die Möglichkeit eines Mädchens hatte er nie gedacht!
    Was für Mädchennamen zum Beispiel?
    Wir dachten an Dafna, Je’ara und Ruthi.
    Stell dir vor, sagt er und wendet sich ihr nun mit dem ganzen Gesicht zu. Die Hautsäcke unter seinen Augen glänzen. Jetzt ist er ganz bei der Sache, es leuchtet und pulsiert in ihm. Durch seine Haut hindurch ahnt man das Feuer von damals. Jetzt ist Ofer gut aufgehoben, sie spürt es, wie zwischen zwei gewölbten Händen.
    Ein Mädchen, sagt sie weich, hätte die ganze Sache einfacher gemacht, nicht wahr?
    Avram holt

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