Eine Frau flieht vor einer Nachricht
tief Luft. »Mädchen« beutelt ihn noch mehr, als »Tochter«.
Sie gehen, jeder in sich selbst versunken. Der Weg knirscht unter ihren Füßen. Sie denkt: Sogar der Weg macht plötzlich Geräusche. Wie kommt es, dass ich all die Tage nichts gehört habe? Wo bin ich gewesen?
Und ihr wolltet es nicht noch einmal probieren, fragt er mutig, und Ora sagt ganz schlicht, Ilan habe das nicht gewollt, denn auch so, habe er gesagt, mit den ganzen Verwicklungen, seien wir schon eine kinderreiche Familie. Vor allem elternreich, denkt sich Avram, und fragt: Und du? Wolltest du? Ora stößt einen kleinen Schmerzschrei aus. Ich? Das fragst du im Ernst? Ich habe mein Leben lang das Gefühl, etwas verpasst zu haben, weil ich keine Tochter habe, kein Mädchen. Kurz darauf fügt sie nach einem Zögern hinzu: Ich habe immer gedacht, ein Mädchen hätte aus uns eine Familie gemacht.
Avram kommt durcheinander, aber ihr … ihr seid doch schon … Ja, sagt sie, wir waren eine Familie, natürlich, und trotzdem hatte ich immer dieses Gefühl, wenn ich noch eine Tochter hätte, wenn Adam und Ofer eine Schwester hätten, das hätte ihnen so viel gegeben, es hätte sie verändert – und sie zeichnet mit den Händen in der Luft einen vollständigen Kreis – eine Tochter hätte mich, glaub ich, den dreien gegenüber gestärkt, und sie wären vielleicht auch mir gegenüber etwas weicher geworden.
Avram hört ihr zu, er hört die Wörter, versteht die Bedeutung nicht, horcht auf: Was sagt sie ihm hier?
Ich bin ganz allein, sagt sie. Anscheinend hab ich es nicht geschafft, sie weicher zu machen, und sie sind allmählich so hart geworden, vor allem mir gegenüber, besonders in letzter Zeit. Hart und stur, alle drei, ja, auch Ofer, stößt sie mit großer Anstrengung hervor, es fällt mir furchtbar schwer, das zu erklären. Und Avram fragt nach, es mir zu erklären, oder überhaupt? Überhaupt, antwortet sie, aber vor allem dir. Dann versuch es, sagt er. Auch die Kränkung in seiner Stimme ist gut, denkt sie, auch das ist ein Lebenszeichen, aber erklären kann sie es nicht, noch nicht. Schritt für Schritt wird sie ihn hineinführen müssen, und es bereitet ihr Schmerzen, vor ihm zugeben zu müssen, dass auch Ofer ihr gegenüber nicht feinfühlig gewesen ist, und in der Zwischenzeit sagt sie, statt einer Antwort, ich habe die ganze Zeit gedacht, wenn ich ein Mädchen gehabt hätte, vielleicht hätte es mich daran erinnert, wie es ist, ich selbst zu sein. Ich, bevor das alles passierte.
Avram steht vor ihr und sagt: Ich erinnere mich noch daran, wie du damals warst.
Aber wenn ich ein Mädchen bekommen hätte, sagt sie später, wäre sie höchstwahrscheinlich ganz anders geworden als ich. Denn irgendwie, sie zieht die Nase hoch, kommen die Jungs beide mehr nach Ilan. Und auch ein bisschen nach dir, das hab ich ja schon gesagt, sogar Adam ist ein bisschen so wie du geworden, frag mich nicht, wie das möglich ist. Du siehst, meine mickrigen Gene haben gegenüber euren sofort nachgegeben.
Avram ist noch immer aufgewühlt von der Möglichkeit, dass er eine Tochter hätte haben können. Jedes Mal, wenn er diesen Gedankennur anrührt, spürt er gleichsam ein helles Streicheln auf dem Gesicht. Hör mal, er tastet sich vor, wenn es ein Mädchen geworden wäre, ich meine …
Ich weiß, sagt Ora leise. Was weißt du? Ich weiß. Dann sag schon, was du weißt, Ora. Wäre es ein Mädchen geworden, dann wärst du gekommen, um es zu sehen, nicht wahr? Ich weiß nicht. Aber ich weiß es, seufzt sie, meinst du, ich habe nicht daran gedacht? Nicht die ganze Schwangerschaft gebetet, dass es ein Mädchen wird? Meinst du, ich bin nicht zu einer weisen Frau im bucharischen Viertel gegangen, damit sie mir den Segen für ein Mädchen gibt?
Bist du wirklich …
Natürlich bin ich gegangen.
Aber da warst du schon schwanger, staunt er, was hat sie da noch machen können …
Na und, sagt Ora, man kann immer noch ein bisschen feilschen. Und übrigens, diesen Satz verschluckt sie fast, auch Ilan wollte eine Tochter. Ilan auch? Ja, da bin ich mir sicher. Aber gesagt hat er es nicht? Nein, darüber haben wir nicht gesprochen. Warum nicht? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel wir um diese Schwangerschaft herum geschwiegen haben. Nur wenn Adam uns was fragte, haben wir ein bisschen geredet. Durch Adam haben wir darüber geredet, was ich im Bauch habe und was passieren wird, wenn sein Geschwisterchen zur Welt kommt.
Avram schluckt, erinnert sich, wie er in
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