Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Gemurmel, sie stellt sich den Mann vor, den sie getroffen haben, seine langen, sehnigen Hände und diese Daumen. Eher Arbeiterhände als die eines Arztes – vielleicht hat die Brille sie deshalb am Anfang so gestört, eine Damenbrille, wie ein oberschlauer Witz –, und sie sieht seine Hände ihr Notizbuch aufschlagen und darin blättern, er versucht zu verstehen, was er liest, wie diese Geschichte funktioniert, vielleicht sieht er auch ihr Gekritzel aus der Nacht, wie die Zeilen im Dunkeln eine über die andere laufen, und hat keinen Nerv, sich dahinein zu vertiefen, und wirft das Notizbuch weg. Vielleicht nervt ihn die Schrift. Vielleicht die endlosen Einzelheiten. Dennoch hofft sie, sie fühlt es, hegt im Grundeüberhaupt keinen Zweifel daran, dass er in der schattigen Schlucht sitzt und alles lesen wird. Ihr Herz hüpft. Vielleicht sitzt er in ebendiesem Moment auf einem der Felsen, vielleicht sogar dort, wo sie in der Nacht gesessen hat, auf dem einzigen bequemen Felsen in der Umgebung, mit ihrem Notizbuch auf den Knien, seine dichten Brauen ziehen sich zusammen, er bemüht sich zu entziffern, was sie halbblind geschrieben hat, und zweifellos weiß er auch, dass diese Seiten von jener Frau stammen, die ihm aus dem Wadi entgegengekommen war.
Die mit dem zerwühlten Haar und der etwas hängenden Lippe.
Am Anfang war es schwer gewesen – nun erinnert sie sich an das, was beim Aufstieg unterbrochen worden war –, die Geschichte von Ofers Vegetarismus, Ilans Kämpfe mit ihm, dass er ein bisschen Fleisch oder wenigstens Fisch aß, das Geschrei und der Streit bei jeder Mahlzeit, die persönliche Beleidigung, die Ilan empfand, als Ofer aufhörte, Fleischfresser zu sein.
Warum Beleidigung? Warum persönlich?
Keine Ahnung, aber er hat das sehr persönlich genommen.
Wirklich? Als sei das gegen ihn?
Dass es, na ja, gegen die Männlichkeit ist, dass es weibisch ist, sich vor Fleisch zu ekeln. Kannst du das denn nicht verstehen?
Doch. Ihr scheltender Ton überrascht ihn. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das gegen mich gerichtet ist, ich weiß nicht, aber vielleicht doch. Ich weiß es nicht, Ora. Er breitet die Hände mit einer etwas übertriebenen Geste der Resignation aus. Ein Bruchteil dessen, was ihn früher ausgemacht hat, blitzt auf: Von Familien verstehe ich überhaupt nichts.
Also wirklich, sagt sie genervt, ausgerechnet du?
Was ich?
Hör mal, sagt sie genervt und ihre Nase rötet sich schon, bist du nie geboren worden? Hattest du keine Eltern? Keinen Vater?
Achso, das meinst du.
Avram schweigt.
Komm, wir setzen uns einen Moment. Mir verkrampfen sich bei diesem Abstieg alle Muskeln. Sie reibt kräftig ihre Hüften: Schau, sie zittern richtig, der Abstieg ist wirklich schwerer als der Aufstieg!
Nie werde ich sein Gesicht vergessen, als er entdeckt hat, dass wirKühe umbringen, sagt sie. Wie er mich angeschaut hat, weil ich ihm von klein auf Fleisch zu essen gegeben habe. Vier Jahre lang. Und sein Entsetzen darüber, dass auch ich Fleisch aß. Ilan, das ging ja noch, vielleicht hat er es so empfunden – ich versuche, mir vorzustellen, was er damals gedacht hat –, bei Ilan konnte man sich das vorstellen, aber bei mir? Dass sogar ich in der Lage bin zu töten, um zu essen? Wer weiß, vielleicht hatte er Angst, dass ich in einer bestimmten Situation auch ihn essen würde?
Avrams Daumen rennen über die Kuppen der anderen Finger. Seine Lippen bewegen sich tonlos.
Vielleicht hatte er auch das Gefühl, dass alles, was er bis dahin über uns gedacht hat, ein großer Fehler war oder, noch schlimmer, dass wir uns alle gegen ihn verschworen hatten.
Um ihn zu verwolfen, murmelt Avram.
Wie kommt es, dass ich nie wirklich versucht habe, mich in diesen Momenten in ihn hineinzuversetzen? Wo er doch der Mittelpunkt meines Lebens war? Die ganze Zeit hab ich mir nur überlegt, wie ich es für ihn gut machen kann, habe mich ganz auf ihn eingestellt und auf das, was er gerade braucht, und jetzt seh ich plötzlich, dass ich gar nichts verstanden habe, dass ich ihn nicht verstanden habe, ihn nicht kannte, so als wäre ich gar nicht bei ihm gewesen.
Du nicht bei ihm? Avram ist fassungslos. Du? Wie kannst du das sagen?
Sie wendet Avram ihr angespanntes Gesicht zu, fleht ihn an: Erklär mir, warum habe ich mich nie gefragt, was so ein Kind mit vier Jahren empfindet, wenn es entdeckt, dass es zur Familie der Raubtiere gehört?
Avram sieht, wie sie sich die Seele aufreißt, und weiß nicht, womit er sie trösten soll.
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