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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Galiläa gefahren.
    Länger kann sie nicht mehr aushalten, was in ihr aufsteigt. Plötzlich hat es seinen Höhepunkt erreicht, und etwas in ihr bricht auseinander, löst sich auf, flaut ab und heilt in einer Mischung von innerem Staunen und warmer Süße. Hochgewachsen, stark und amazonenhaft steht sie auf einem Felsen höher als Avram, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie mustert ihn prüfend und lacht los: Sag mal, ist das nicht verrückt? Ist das nicht völlig durchgeknallt?
    Was? fragt er schnaufend, was von alledem?
    Dass ich erst bis ans Ende der Welt fliehe und mich jetzt plötzlich keinen Schritt weiter von zu Hause entfernen kann.
    Ach, das ist es? staunt Avram, jetzt rennst du nach Hause?
    Vorher, als ich angefangen habe, mich zu entfernen, hat es mir echt körperlich weh getan.
    Ah, sagt er und massiert seine stechenden Seiten.
    Du denkst bestimmt: Was für eine Verrückte, die mich da entführt hat.
    Er hebt sein großes, verschwitztes Gesicht zu ihr und lächelt: Ich warte noch auf deine Lösegeldforderungen.
    Mit Leichtigkeit beugt sie sich über ihn, die Hände auf die Knie gestützt, und ihre Brüste runden sich im Ausschnitt ihres Hemdes: Das Lösegeld ist Ofer.

    Eines Morgens, vor etwa zwanzig Jahren, hatten sie und Ilan Ofer zu einer Behandlung nach Tel Aviv ins Krankenhaus gebracht, zu einem Fachmann für Verdauungsprobleme bei Kindern. Da wurde Ofer für mehrere Stunden gequält, sie haben ihm Blut abgenommen, ihm durch Nase und Rachen eine Sonde in den Magen geschoben und ihnmit einem speziellen, sehr fettreichen Nährbrei gemästet, den der Professor ihnen aufgeschrieben hatte. Diese Lösung mussten sie in der Küche des Krankenhauses abholen. Ilan war mit dem Rezept und Ofers leerem Fläschchen in der Hand in den Keller des Gebäudes hinuntergegangen. Mitten in der Küche blieb er stehen: Dutzende von Menschen rannten da herum, Köche und Hilfsköche schoben Wagen voller Nirostacontainer und Tabletts hin und her, schleppten Kartons mit Brot und mit Obst, Säcke von Mehl und Zucker. Andere zerschnitten Fleisch und Hühner, gossen Wasser in Kessel, Milch in Flaschen, Saft in Kannen und Öl in Riesenpfannen. Anweisungen und Mahnungen flogen hin und her, riesige Töpfe brodelten, Dampf und Rauch stieg zur Decke, und überall summten Flammen und Öfen. Ilan kam es vor, als betrete er das unterste Deck eines großen Schiffes, wo Wesen, die nie das Tageslicht sehen, die Kessel anheizten. In diesem Moment sah er Avram.
    Avram lief dort in blauer Arbeitskleidung herum, mit einer hellblauen Nylonhaube auf dem Kopf, einer Schürze um die Hüften, und hörte Ilan durch das Getöse murmeln: Entschuldigung, kann mir bitte mal jemand helfen?
    Avram ging auf ihn zu, trocknete sich die Hände an der Schürze ab. Sie standen einander gegenüber. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, seit Ora ihm gesagt hatte, dass sie von ihm schwanger sei.
    Ilan sagte, ich wusste nicht, dass du hier arbeitest.
    Avram zuckte mit den Schultern. Das Sicherheitsministerium hat mir den Job besorgt, brummte er. Er sah dick und ungepflegt aus, sein Blick war trüb, er wagte sich nur kurz heraus und zog sich gleich in seine Höhle zurück. Ilan wusste nicht, ob er ihm die Hand hinstrecken sollte. Avram stand da und rührte sich nicht. Schon damals hatte er sich dieses klotzartige Dastehen angewöhnt, und in Ilan formulierte sich die Befürchtung: Sein Avram, Avram d.f.s., dick, flink und schmiegsam, war zu einem anderen, einem Fremden geworden.
    Da fiel Ilan etwas ein, was Avram ihm während der Reha erzählt hatte, bei einem Spaziergang zu Fuß durch Tel Aviv. Er sagte, er überlege sich bei fast jedem Menschen, den er zum ersten Mal treffe, was für einen Gefängniswärter der wohl abgeben würde, er stufe ihn aufeiner Skala zwischen Barmherzigkeit und Grausamkeit ein und stelle sich vor, welche Foltermethoden der wohl am liebsten anwenden würde, wenn man ihn bloß ließe. Ilan hatte gedacht, interessant wäre, wo er mich einstufen würde, hatte ihn damals aber nicht gefragt; doch dort in der Küche spürte er nun, wie Avram ihn heimlich mit diesen Augen maß, und gegen seinen Willen wich er einen Schritt zurück.
    Danach fasste er sich und reichte ihm den Zettel mit dem Rezept. Avram hielt den Zettel ins Licht und las. Als er Ofers Namen sah, verzerrte sich sein Gesicht und wurde feuerrot. Ilan murmelte, wir haben ihn Ofer genannt. Avram reagierte nicht. Ilan sagte: Er hat

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