Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
Verdauungsstörungen, wohl ein Problem mit der Fettverdauung, und Avram hob die Hand mit dem Rezept vors Gesicht und brachte Ilan damit zum Schweigen. Ilan senkte den Kopf. Keinen Kontakt , erinnerte er sich, keinen Kontakt mit dem Leben. Aus irgendeinem Grund versuchte er, das Fläschchen vor Avram hinter dem Rücken zu verbergen, doch Avram beobachtete seine Handbewegung, und es zog seine Augen zu der leeren Flasche. Ilan hatte angenommen, Avram würde das Rezept an jemanden weitergeben, dessen Aufgabe es war, solche Mischungen zuzubereiten, doch Avram gab ihm ein Zeichen, er solle an der Tür warten, und ging zu einem der riesigen Kühlschränke am Ende des Raumes, holte ein paar Flaschen heraus und goss, mit dem Rücken zu Ilan, von ihrem Inhalt in einen Topf. Dann stellte er den Topf auf den Herd, zündete eine kleine Flamme an und rührte langsam. Dieses Erwärmen und Rühren dauerte vielleicht drei Minuten, und in dieser ganzen Zeit drehte er sich nicht ein einziges Mal um, schaute Ilan nicht an. Zum Schluss drehte er das Feuer ab, probierte die Lösung mit einem Teelöffel, vielleicht um die Temperatur zu prüfen. Sie war wohl zu heiß, denn er fing an, die Mischung von einem Topf in den andern zu gießen. Ohne es zu merken, zog es Ilan zu ihm hin. Mit unendlicher Geduld goss Avram die Mischung mehrmals von einem Topf in den andern. Ilan sah die Handbewegungen von hinten und staunte, wie geübt und präzise sie waren. Als er direkt hinter ihm stand, streckte Avram, ohne sich umzuschauen, die Hand nach seiner Rechten aus, und Ilan gab ihm wortlos das Fläschchen. Avram goss den Inhalt des Topfes in die Flasche. Beide verfolgten konzentriert die weiße Flüssigkeit. Nur einmal zitterte Avrams Hand, und ein bisschen Milch spritzteauf den Boden. Bevor er Ilan die Flasche reichte, umfasste Avram sie für einen Moment mit beiden Händen, als wolle er noch einmal die Wärme prüfen oder sich vielleicht an ihr wärmen. Danach hielt er Ilan die Flasche hin, und auch der umfasste sie mit beiden Händen. Sie standen einander gegenüber. Avrams Arme hingen herab, als ziehe jemand sie nach unten, und nur eine Schulter hob sich und ragte unnatürlich auf. Er schaute Ilan nicht an. Ilan murmelte danke und machte sich aus dem Staub. Erst abends, wieder zu Hause mit Ora und Ofer, war er in der Lage, ihr davon zu erzählen.

    Sie gehen los. Der Weg ist leicht und sie sind es auch. Wohl zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen sind, halten sie ihre Köpfe nicht so gebeugt. Sie folgen dem Weg, bergauf, bergab, er wird zu einem breiten Trampelpfad, sie klettern auf ein Steinmäuerchen und verlieren unter wuchernden Pflanzen ihre Wegzeichen – ein Teppich grüner hochgewachsener Mariendisteln bedeckt alles – und sie beschließen, sich auf ihre Erfahrung und auf ihren schon recht gut entwickelten Wanderersinn zu verlassen und gehen mutig und schweigend noch ein paar hundert Meter durch die Disteln. Ohne irgendeinen Hinweis auf die Richtung, ohne etwas zum Festhalten, wie erste Schritte, denkt Ora, und sofort bricht das Geschwür der Angst um Ofer wieder in ihr auf. Sie spürt, dass sie ihm in diesem Moment nicht hilft, dass der Kreidekreis, den sie um ihn gezogen hat, durchlässig wird, und noch immer sehen sie kein Wegzeichen. Das Gehen fällt ihnen schwerer, ab und zu bleiben sie stehen und schauen sich um. Da blicken andere Augen sie an, ein Schleuderschwanz, der mit seinen Verneigungen aufgehört hat und sie misstrauisch beäugt, eine Eidechse mit Heuschrecke im Maul, ein Schwalbenschwanz-Falter, der einen Moment zögert, bevor er sein gelbliches Ei in eine Fencheldolde legt, als spürten auch sie, dass etwas im allgemeinen Rhythmus gerade falsch läuft, dass jemand seine Richtung verloren hat, doch da leuchtet es wieder blau-weiß-orange auf einem Felsen, und sie zeigen mit vier Händen darauf, freuen sich über diesen süßen kleinen Sieg, Avram rennt voraus und reibt mit der Schuhsohle an dem bezeichneten Felsen – ein Männchen markiert sein Territorium –, und jetzt sprechen beide die Sorge aus, die sie befallen hatte, und loben sich gegenseitig, dass es ihnen gelungen war, ihre Ängste für sich zu behalten und denanderen nicht damit zu belasten, und auch die Wegzeichen kehren nun zurück und werden häufiger, als wolle der Weg die Wanderer für die Prüfung entschädigen, der er sie unterzogen hat.
    Hör zu, was mir jetzt noch eingefallen ist, sagt sie. Nach Ofers Geburt, als wir ihn aus dem Krankenhaus nach Hause

Weitere Kostenlose Bücher