Eine Frau flieht vor einer Nachricht
nicht zurückgehen.
Das versteh ich nicht.
Ich auch nicht.
Aber das Notizbuch …
Avram, es tut mir nicht gut zurückzugehen.
Und als sie das sagt, ist es in ihr stark und eindeutig wie ein Trieb. Sie macht kehrt und geht den Berg wieder hinauf, und es ist richtig, da hat sie keinen Zweifel. Avram bleibt noch einen Moment stehen, seufzt, reißt sich dann los und folgt ihr mürrisch murmelnd, ist ja auch egal.
Plötzlich geht sie leichtfüßig gegen den Hang an, und gegen das Gewicht des Mannes, der jetzt vermutlich unten in der Talsohle des Wadis auf ihrem Felsen sitzt und in ihrem Notizbuch liest, der Mann, den sie vermutlich nie mehr sehen wird, der sie mit seinem Blick geradezu angefleht hatte, sich ihrer annehmen zu dürfen – diese Lippen, eine reife Pflaume, mit dieser Kerbe. Von ihm hat sie sich mit einem kleinen Stich im Herzen soeben verabschiedet, dabei hätte sie gern einen Kaffee mit ihm getrunken, doch plötzlich hatte das Haus nach ihr geschnappt. Zurückgehen kann sie nicht.
Noch bevor Ofer geboren wurde, sagt sie, seit der Gefangenschaft, seit du zurückgekommen bist, lebe ich mit dem Gefühl, ständig von dir angeschaut zu werden.
Jetzt ist es raus, was über Jahre ihr Leben verbitterte und gleichzeitig versüßte.
Wie wirst du angeschaut?
In deinen Gedanken, von deinen Augen, keine Ahnung. Angeschaut eben.
Es gab Zeiten – aber das wird sie ihm natürlich nicht erzählen, zumindest jetzt nicht –, wo sie sich jeden Moment so vorkam, von der Minute an, wo sie morgens die Augen aufschlug, bei jeder Bewegung, die sie machte, bei jedem Lachen, wenn sie auf der Straße ging und wenn sie mit Ilan im Bett lag, als spiele sie eine Rolle in einer Aufführungoder einem verrückten Hörspiel von ihm. Und da spielte sie – vielleicht mehr als um ihrer selbst willen – um seinetwillen mit.
Was gibt’s da groß zu verstehen? Sie dreht sich plötzlich zu ihm um und schaut ihn an, ganz gegen ihre Absicht – ihre schwachen Schließmuskeln –, das ist etwas, was Ilan und ich immer so empfunden haben. All die Jahre: Wir spielen ein Theaterstück auf deiner Bühne.
Ich hab euch nicht darum gebeten, auf meine Bühne zu kommen, brummt Avram gereizt.
Aber wie hätten wir uns anders fühlen können?
Beide werden zurückgeschleudert und in jene Szene gesogen: zwei Jungen und ein Mädchen, fast noch Kinder. Nimm eine Mütze und tu zwei Zettelchen rein, zwei gleiche – aber was lose ich hier aus? Das wirst du erst am Ende wissen.
Versteh mich nicht falsch, sagt sie, wir haben ein ganz und gar wirkliches und volles Leben geführt, mit den Kindern, jeder mit seiner Arbeit, mit den Ausflügen und Unternehmungen, den Fahrten ins Ausland und unseren Freunden – die Fülle des Lebens, denkt sie, wieder in Ilans Tonfall, mit diesem Staunen, das all die Jahre nicht schwächer geworden war, über das, was sie gemeinsam hatten. Jahre mit deinem Blick in unserem Rücken, und wir haben ihn kaum gespürt. Gut, vielleicht waren es nicht Jahre. Wochen. Was weiß ich. Hier und da ein Tag. Im Ausland zum Beispiel, wenn wir in Urlaub waren, konnten wir uns leichter von dir befreien. Aber im Grunde stimmt das auch nicht, sagt sie traurig, denn an den schönsten Orten, in den sorglosesten Momenten hab ich plötzlich den Stich im Rücken gespürt, nein, eher im Bauch, hier, und auch Ilan hat ihn gespürt, immer im selben Moment. Gut, sagt sie leicht spöttisch, das war nicht so schwer zu spüren, denn in dem Moment, wo wir etwas sagten, was nach dir klang, oder einen Witz von dir erzählten oder irgendeinen Satz, den du hättest sagen können, du weißt schon – oder wenn Ofer sich genau mit deiner Bewegung den Kragen umschlug, oder wenn er für die Spaghetti die Tomatensoße kochte, die du mir beigebracht hast. Tausendundeine Sache. Sofort haben wir uns in die Augen geschaut, uns gefragt, was du wohl gerade machst, wie es dir geht.
Ora, renn nicht so, seufzt Avram hinter ihr, doch sie hört ihn nicht.
Auch das war Teil unseres Lebens, denkt sie überrascht, ein Teil der Fülle unseres Lebens – deine Leere, die uns ausfüllte.
Einen Moment lang hat sie genau den Blick, den sie Ofer manchmal zuwarf, wenn sie für einen kurzen Augenblick wie durch ein Spiegelfenster in ihn hineinspähte, zu jener Stelle, an der sie sah, was er selbst nicht wusste.
Vielleicht hat er gerade deshalb aufgehört – sofort muss sie sich das antun –, dir in die Augen zu schauen. Und vielleicht ist er auch deshalb nicht mit dir nach
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