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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Zu armselig kommt er sich in diesem Moment vor.
    Ich muss darüber noch weiter nachdenken, flüstert sie, und darf nicht hier stehenbleiben. Immer bleib ich hier stehen, weil noch etwas dahintersteckt, verstehst du, bei dieser ganzen Geschichte mit dem Vegetarismus. Ich bin nicht umsonst so … Schau, zum Beispiel, die Niedergeschlagenheit, die ihn danach überfallen hat, über Wochen, eine echte Depression, ein vierjähriger Junge, der morgens nicht aufstehen und in den Kindergarten gehen will, weil er nicht will, dass ihnein Kind mit seinen »Fleischhänden« anfasst, oder weil er einfach so Angst vor den Kindern und der Kindergärtnerin hat und vor allen zurückschreckt und jeden verdächtigt, verstehst du?
    Ob ich das versteh, fragt Avram mit einem Lächeln, und Ora stoppt ihren Schwall, natürlich verstehst du das. Ich glaub, du hättest ihn prima verstanden, sagt sie leise.
    Ja?
    Überhaupt, du hättest Kinder verstehen können, aus dir selbst heraus. Sie wendet ihren ganzen Mut auf, um das zu sagen.
    Ich? Er ist verblüfft, was soll ich …
    Wer, wenn nicht du, Avram.
    Er stößt ein spöttisches Kichern aus und errötet. Ora hat den Eindruck, als öffneten sich mit einem Mal alle Poren seiner Seele.
    Als er endlich wieder bereit war, in den Kindergarten zu gehen, sagt sie nach einer Weile, hetzte er gleich die anderen Kinder auf, kein Fleisch mehr zu essen. In jeder großen Frühstückspause hat er einen Aufstand gemacht, hat in ihren Brötchen rumgepult. Mütter haben mich angerufen und sich beschwert. Und als er rausbekam, dass die junge Frau, die ihnen dort Musikunterricht gab, auch Vegetarierin war, hat er sich bis über beide Ohren in sie verliebt, das hättest du sehn sollen, wie ein Ufo von einem anderen Stern, das incognito unter den Menschen lebt und plötzlich ein Ufoweibchen trifft. Er hat ihr Bilder gemalt und Geschenke gemacht, hat den ganzen Tag nur von Nina gesprochen, und manchmal hat er mich aus Versehen – und vielleicht auch gar nicht so aus Versehen – Nina genannt.
    Sie stehen auf, gehen aber noch nicht los. Ihm fällt ein Hörspiel ein, an dem er schrieb, als er im Sinai seinen Militärdienst machte, bevor er in Gefangenschaft geriet. Da hatte er eine Nebenhandlung entwickelt, deren Kraft er erst entdeckte, als er schon in Gefangenschaft war. Immer wieder tauchte er in die Handlung ein und stärkte sich daran. Die Geschichte handelte von zwei siebenjährigen Kindern, Vollwaisen, die auf einem Schrotthaufen ein ausgesetztes Baby gefunden haben; sie spielte zu einer Zeit, in der viele Leute sich ihrer Kinder und Babys entledigten. Und die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, fanden das weinende Baby und beschlossen, dass es ein Gotteskind ist, der spät geborene Sohn des alten Gottes, der wohl auch sein Kind hatteloswerden wollen und es auf diese Welt geworfen hatte. Die beiden Kinder schworen sich, den Jungen selbst großzuziehen und ihn so zu erziehen, dass er ganz anders würde als sein verbitterter, grausamer Vater, um ganz und gar und von den Grundfesten her das zu verändern, was Avram ganz schlicht und schon bevor er in Gefangenschaft geriet, die Grausamkeit des Schicksals genannt hatte. Und so versenkte er sich zwischen Folter und Verhören, jedes Mal, wenn er in sich einen Funken Kraft dafür fand, ins Leben der beiden Kinder und des Babys, und manchmal, vor allem nachts, gelang es ihm für einige lange Augenblicke, ganz mit dem winzigen Baby zu verschmelzen. Sein geschundener Körper wurde dann von dem arglosen, unversehrten Körper des Babys aufgenommen, und er erinnerte sich oder stellte sich vor, wie er ein Baby gewesen war, und dann ein kleines Kind, und wie die Welt ein sehr heller, vollkommener Kreis gewesen war, bis sein Vater eines Abends vom Esstisch aufstand und den Suppentopf auf dem Herd umkippte und wutschnaubend begann, Avrams Mutter und Avram selbst zu verprügeln. Er hätte sie fast totgeschlagen, und danach ist er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
    Komm Ora, sagt Avram und berührt leicht ihren Arm, lass uns weitergehn, damit wir es vorher finden.
    Was?
    Das Notizbuch, oder?
    Vor wem?
    Ich weiß nicht, bevor da Leute hinkommen, du willst doch nicht, dass jemand …
    Sie läuft hinter ihm her, kraftlos und vertrocknet. Diese ganze Zeit ersteht jetzt wieder vor ihr. Jeder Morgen ein Albtraum: Die Zubereitung seines gereinigten und zensierten Butterbrots, und das natürlich erst dann, wenn die penible Ankleide-Zeremonie mit dem Kostüm des

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