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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Haar, schaute hilflos auf ihren anderen Sohn und wusste nicht, ob er sich vor den Arabern fürchtete oder weil sein kleiner Bruder ihm keine Stütze mehr war.
    Was machst du mit so einem Kind, das plötzlich die Tatsachen des Lebens und des Todes entdeckt, sagt Ora zu Avram, als sie auf dem Abhang des Meron an einer Gedenktafel für einen drusischen Soldaten vorbeigehen, »Feldwebel Salach Kassem Tafesch, Gott möge seinen Tod rächen«, liest Avram aus dem Augenwinkel – Ora geht lieber schnell weiter –, »gefallen mit 21 Jahren im Südlibanon bei einem Zusammenstoß mit Terroristen am 31. März 1991. Wir werden dich nie vergessen.« Was machst du mit so einem Kind, wiederholt sie mit zusammengepressten Lippen, das von seinem Taschengeld ein Blöckchen kauft und jeden Tag mit Bleistift einträgt, wie viele Israelis nach dem letzten Anschlag noch übrig sind.
    Oder am Sederabend, bei Ilans Familie, fängt er einmal plötzlich zu weinen an, er wolle kein Jude mehr sein. Weil man uns immer umbringtund immer hasst, an allen Festen sei das so. Und die Erwachsenen schauen sich an, und ein Cousin sagt, dagegen könne man so leicht nichts sagen, und seine Frau kontert sofort, du bist ja paranoid, und er belegt seine Aussage mit einem Zitat aus der Pessach-Haggada: In jedem Zeitalter erheben sich viele wider uns, um uns ins Verderben zu stürzen , und sie sagt, das sei ja nun keine wissenschaftlich geprüfte Tatsache und man müsse doch mal überlegen, was unser Anteil daran sei, dass sie sich wider uns erheben , und schon bricht die alte Diskussion auf, und Ora will sich, wie immer, in die Küche verziehen und beim Spülen helfen, doch plötzlich hält sie inne: Sie sieht, wie Ofer die diskutierenden Erwachsenen mit verweinten, prophetischen Augen anblickt, voller Entsetzen über ihre Zweifel und ihre Naivität.
    Schau sie dir an, hatte Avram nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft einmal bei einer ihrer wahnwitzigen Fahrten durch die Straßen Tel Avivs zu ihr gesagt, schau sie dir an: Sie laufen auf der Straße herum, sie reden, schreien, lesen Zeitung, kaufen ein, sitzen im Café – er hatte ein paar Minuten lang alles beschrieben, was an den Fenstern des fahrenden Autos vorbeizog –, warum hab ich dann die ganze Zeit das Gefühl, dass das alles eine einzige riesige Show ist? Dass sie das alles nur tun, um sich selbst davon zu überzeugen, dass das alles hier wirklich ist?
    Jetzt übertreibst du’s aber, hatte Ora gesagt.
    Ich weiß nicht, warum, aber ich hab so ein Gefühl, vielleicht täusch ich mich auch, dass Amerikaner oder Franzosen nicht die ganze Zeit wollen müssen, dass Amerika oder Frankreich existiert, oder England.
    Ich versteh dich nicht, Avram.
    Diese Staaten bestehen, auch ohne dass man sie die ganze Zeit wollen muss, aber hier …
    Wenn ich mich so umschaue, hatte sie geantwortet, und ihre Stimme klang etwas höher und heiserer, erscheint mir das alles völlig natürlich und normal. Ein bisschen verrückt, zugegeben, aber im Rahmen der Normalität.
    Ich habe es eben von einem anderen Ort aus gesehen, hatte Avram gedacht, sich in sich selbst verkrochen und geschwiegen.
    Ora hatte den Wagen gelenkt und sich ungeduldig umgeschaut. Sie sah ein altes Paar an Stöcken, einen Parkwächter, der einen Strafzettelschrieb, drei Männer, die wild gestikulierend diskutierten. Eine Frau mit einem Hund. Zwei Arbeiter in Overalls, die einen großen Spiegel trugen.
    Nein, nein, hatte sie gesagt und sich geschüttelt, sich aufrechter hingesetzt, das Kinn ein bisschen vorgeschoben, red nicht so, lass mich damit in Ruh, ich will das nicht hören!
    Am nächsten Morgen – Ora erzählt weiter über Ofer – zog er die Konsequenz und verkündete, ab jetzt wäre er Engländer, man solle ihn ab heute John nennen, auf Ofer würde er nicht mehr hören. Denn die Engländer bringt man nicht um, erklärte er schlicht, und die haben keine Feinde. Ich hab in der Klasse gefragt, und auch Adam hat gesagt, dass alle mit den Engländern gern befreundet sind. Deshalb werde er jetzt auch nur noch Englisch sprechen, das heißt, was er für Englisch hielt, lachte Ora, ein Kauderwelsch aus Hebräisch mit englischem Akzent. Und zur Sicherheit verbarrikadierte er auch noch sein Bett mit Büchern und Spielzeug, mit kugelsicheren Wällen von Stofftieren, und bestand jeden Abend darauf, mit einem schweren Schraubenschlüssel unterm Kopfkissen schlafen zu gehen.
    Und einmal hab ich zufällig gesehen, dass er in seinen Block immer Haravim ,

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