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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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muss, ohne Sprünge, dass der Weg uns so lehrt, in seinem Tempo zu gehen.
    Das Gegenteil von meinem Leben mit Auto, Mikrowelle und Computer, sagt sie, wo man mit einem Knopfdruck ein ganzes Huhn auftauen oder eine E-Mail nach New York schicken kann. Oj, Avram, sagt sie, streckt die Arme von sich und atmet die scharfe Höhenluft ein, dieses Schritt für Schritt liegt mir so viel mehr. Vielleicht können wir unser Leben lang nur so gehen und gehen, ohne anzukommen?
    Sie weichen von dem Rundweg um den Gipfel ab, auf einer kleinen Wiese in frischem Grün legen sie sich auf die warme Erde, das Gesicht zur Sonne gewandt, es ist Nachmittag, über Oras Kopf steht ein schon bestäubter Storchenschnabel, er lässt seine blauen Blüten fallen und stirbt vor sich hin. Eine gewaltige Kraft, erdig, felsig und urzeitlich, dringt aus dem Fels unter ihr in ihren Körper. Die Hündin liegt etwas entfernt, leckt und putzt sich eifrig. Avram holt aus seinem Rucksack eine Mütze von Ofer – »3. Kompanie, ›Die Kerle‹« – und bedeckt damit sein Gesicht, auch sie legt sich eine Mütze aufs Gesicht. Die Wärme der Sonne macht sie schläfrig. Eine tiefe Stille breitet sich aus. In den abgefallenen Anemonenblättern neben ihrer Hand gräbt ein Blatthornkäfer. Neben ihrem Knie beeilt sich eine Mittagsschwertlilie,ihre Blüten weit zu öffnen, auch die sind blau und eine listige Versuchung für Anhänger des schon verwelkten Storchenschnabels.
    Vorhin, bei diesem Aussichtspunkt, sagt Ora leise unter ihrer Mütze, als wir aufs Hulatal schauten, das mit seinen Feldern in allen Farben so wunderschön war, dachte ich, dass es mir eigentlich mit dem Land immer so geht.
    Wie?
    Dass jede Begegnung mit dem Land auch immer ein bisschen ein Abschied ist.
    Vor Avrams geschlossenen Augen taucht plötzlich ein Fetzen Papier auf. Das Stück einer arabischen Zeitung, das er auf dem Klo im Abassija Gefängnis im Eimer gefunden hatte. Durch den verschmierten Kot gelang es ihm, einen kurzen, sachlichen Bericht über eine Exekution am Vortag auf dem zentralen Platz in Tel Aviv zu lesen, bei der die gesamte Riege stellvertretender Minister und fünfzehn Bürgermeister und Leiter der Regionalverwaltungen aus der Gegend von Haifa hingerichtet worden waren. Einige Tage und Nächte lang war er überzeugt gewesen, dass es Israel nicht mehr gab. Danach begriff er, dass es sich um ein Täuschungsmanöver handelte, doch da war in ihm schon etwas zerbrochen.
    Seine Augen unter der Mütze sind aufgerissen. Er erinnert sich an die endlosen Fahrten mit Ora und Ilan durch Tel Aviv, nachdem man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Alles erschien ihm damals zwar ganz lebendig, aber gleichzeitig wie eine riesige Show. Bei einer dieser Fahrten war ihm Ora gegenüber die Bemerkung rausgerutscht: Klingt ja ganz schön, mit Herzl zu sagen: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen«, aber was, wenn einer nicht mehr will? Oder wenn einer zum Wollen keine Kraft mehr hat?
    Was zu wollen?
    Wenn einer nicht länger kein Märchen sein will.
    Ein Schwarm von Steinhühnern erhebt sich flügelschlagend von dem Gebüsch neben ihnen, und die Hündin kehrt enttäuscht von dort zurück.
    In solchen Momenten denke ich immer, sagt Ora unter ihrer Mütze, das ist mein Land, und ich kann wirklich nirgendwo anders hin. Wohin sollte ich gehen, sag mir, wo sonst würde ich mich über alles, was passiert, so aufregen, und wer würde mich überhaupt nehmen?
    Aber im selben Moment weiß ich auch, dass das Land im Grunde keine Chance hat, wirklich keine Chance, verstehst du? Sie reißt sich die Mütze vom Gesicht und setzt sich mit einem Ruck auf. Überrascht, dass Avram dasitzt und sie anschaut. Wenn du das mit kühler Logik überlegst, flüstert sie, ohne Illusionen, wenn du nur Zahlen und historische Tatsachen berücksichtigst, hat dieses Land keine Chance.
    Und plötzlich stürmen, wie in einem schlechten Theaterstück, einige Dutzend Soldaten auf die große Wiese, rennen in zwei Reihen auf sie zu, teilen sich zu beiden Seiten von Ora und Avram. »Offizierskurs der Technischen Truppe« steht auf ihren verschwitzten Hemden, dreißig oder vierzig erschöpfte, kräftige junge Männer, und ihnen voraus rennt gelenkig eine zart gebaute blonde Soldatin, die ihnen eine Art provokative Melodie vorsingt:
    Auf auf auf!
    Und sie antworten ihr heiser brüllend:
    Rina hat was drauf!
    Und sie: Auf auf auf!
    Stürmt den Berg hinauf!

    Was antwortest du einem Sechsjährigen, dem mickrigen Ofer, wenn er sich

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