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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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eines Morgens auf dem Weg mit dem Fahrrad in die Schule fest an deinen Rücken klammert und vorsichtig fragt: Mama, wer ist gegen uns? Du versuchst herauszubekommen, was genau er meint, und er fragt ungeduldig, wer auf der Welt hasst uns, welche Länder sind gegen uns, und du willst natürlich, dass seine Welt noch sorglos und frei von Hass bleibt, und sagst ihm, die, die gegen uns sind, hassen uns nicht unbedingt, wir haben eben mit einigen Nachbarländern so eine Art langen Streit über verschiedene Sachen, genauso wie die Kinder bei dir in der Schule sich manchmal streiten und sich sogar schlagen. Aber er schließt seine Arme noch fester um deinen Bauch und verlangt, du sollst ihm die Namen der Länder sagen, die gegen uns sind; seine Stimme und sein spitzes Kinn, das sich in deinen Rücken bohrt, zeugen von größter Dringlichkeit, und du fängst an aufzuzählen: Syrien, Jordanien, Irak, Libanon. Aber mit Ägypten haben wir Frieden, sagst du mit ermutigender, fröhlicher Stimme, mit den Ägyptern hatten wir viele Kriege, aber jetzt vertragen wir uns mit denen, und du denkst dir, wenner wüsste, dass wegen dieser Ägypter er selbst entstanden ist. Aber er fordert von dir Genauigkeit, er ist ein praktisch veranlagter Junge, der es immer ganz genau wissen will: Sind die Ägypter schon richtig unsere Freunde? Nicht so richtig, räumst du ein, sie wollen noch nicht wirklich unsre Freunde sein. Dann sind sie gegen uns, stellt er düster fest und fragt sofort weiter, ob es noch mehr »arabische Länder« gebe, und er lässt nicht locker, bis du sie aufzählst, Saudi-Arabien, Libyen, Sudan, Kuwait und Jemen, du spürst in deinem Rücken, wie er diese Namen auswendig lernt, und fügst auch Iran hinzu, die sind nicht wirklich Araber, mögen uns aber auch nicht besonders, und er schweigt noch immer und fragt dann mit erschöpfter Stimme, ob es nicht noch mehr gebe, und du murmelst, doch, Marokko, Tunesien und Algerien, und du erinnerst dich auch an Indonesien, Malaysia, Pakistan und bestimmt auch Usbekistan und Kasachstan, alle diese auf -stan klingen dir nicht geheuer, aber schau mal, mein Spatz, schon sind wir da, und als du ihm hilfst, vom Gepäckträger zu steigen, hast du den Eindruck, dass sich sein Gewicht verdoppelt hat.
    In den Tagen danach fing er an, aufmerksam die Nachrichten zu hören. Auch wenn er beim Spielen war, spannte er sich zur vollen Stunde hin an, und später dann auch zu den Kurzmeldungen alle halbe Stunde. Unauffällig, mit Bewegungen eines Spions, erschien er plötzlich in der Küche, stand wie zufällig neben der Tür und lauschte dem Radio. Sie beobachtete ihn und sah, wie sich sein kleines Gesicht jedes Mal in einer Mischung aus Wut und Angst verzerrte, wenn von einem Israeli berichtet wurde, der bei einer feindlichen Handlung umgekommen war. Bist du traurig? fragte sie ihn, als er weinte, nachdem auf dem Markt in Jerusalem wieder eine Bombe explodiert war, und er stampfte auf und rief, ich bin nicht traurig, ich bin wütend! Die bringen uns alle Leute um! Bald haben wir keine Leute mehr! Sie versuchte ihn zu beruhigen, wir haben eine starke Armee, sagte sie, und außerdem gibt es auch große, starke Länder, die uns beschützen. Ofer nahm diese Information mit Vorbehalt auf. Er wollte wissen, wo genau sich bitte diese befreundeten Länder befänden. Ora schlug einen Atlas auf: Hier zum Beispiel sind die Vereinigten Staaten, hier ist England, und hier sitzen noch ein paar gute Freunde von uns, murmelte sie und wischte zu schnell mit der Hand über einige europäische Länder, denen auchsie selbst nicht besonders vertraute. Er schaute sie fassungslos an: Aber die sind weit weg! rief er, als könne er nicht glauben, wie dumm sie war: Guck doch, wie viele Seiten dazwischen sind!
    Ein paar Tage später bat er sie dann, ihm die Länder zu zeigen, die »gegen uns« sind. Wieder schlug sie den Atlas auf und zeigte sie ihm, eines nach dem andern. Wart mal, sie wunderte sich für einen Augenblick, und wo sind wir hier eigentlich? Ein Hoffnungsfunke blitzte in ihm auf: Vielleicht sind wir gar nicht auf dieser Seite? Sie zeigte mit dem kleinen Finger auf Israel. Er stieß ein merkwürdiges Wimmern aus und drückte sich ganz fest an sie, bohrte sich geradezu in sie hinein, als wolle er sich wieder in ihren Körper verkriechen. Sie umarmte ihn, streichelte ihn und murmelte tröstende Worte. Als es ihr gelang, sein Gesicht zu sich zu heben, sah sie in seinen Augen etwas, was ihr den Magen zuknotete.
    Danach

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