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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Falten: Bist du sicher? Sieht eher aus wie …
    Sie beugt sich tiefer über das Blatt: Es sieht ein bisschen aus wie ihre eigene Handschrift, oder eine männliche Variante davon: ordentliche Buchstaben, alle in dieselbe Richtung geneigt.
    Wirklich ziemlich ähnlich, murmelt sie verlegen, fühlt sich ertappt, sogar ich selbst hab mich zuerst getäuscht.
    Sie blättert zurück, sucht die Stelle, wo der Schreiber gewechselt hat. Zwei-, dreimal überfliegt sie die richtige Seite, bis sie ihre letzten Zeilen erkennt: … Sind wir nicht wie eine kleine Untergrundzelle mitten in der Lage? Und das waren wir wirklich. Zwanzig Jahre lang. Zwanzig gute Jahre lang. Bis es uns erwischt hat. Und direkt anschließend, ohne umzublättern, so eine Frechheit, nicht einmal einen Strich hat er gezogen! liest sie: Nicht weit vom Nachal Dischon treffe ich Gilad, 34, einen Elektriker, der auf einer Djembé trommelt, er lebte früher in einem Moschaw im Norden, jetzt in Haifa. Er hat mir erzählt, wonach er sich sehnt: »Mein Vater war Landwirt (Pekannüsse), und in schlechten Jahren hat er verschiedene Jobs gemacht. Er hat sogar mal Bauholz von Müllhalden aufgelesen und es einem Araber im Nachbardorf verkauft.«
    Was ist das? Sie drückt Avram das Notizbuch gegen die Brust, was soll das bitte?
    Und sie zieht es wieder an sich und liest mit halb erstickter Stimme:
    »Bretter, damit muss man umgehn können. Die kannst du nicht einfach so ins Lager schmeißen, die musst du ordentlich stapeln, die großen auf die großen, die kleinen auf die kleinen, und immer Backsteine drauflegen, sonst verziehen sie sich. Aber zuerst musst du die Nägel rausziehn. Früher hab ich mit meinem Vater nachts unter dem Vordach draußen gestanden und …«
    Sag, was ist das? Was ist das für ein Quatsch? Sie schaut genervt zu Avram, doch der hält die Augen geschlossen und macht ihr ein Zeichen, weiter, lies weiter.
    »Und mein Vater hatte ein blaues Unterhemd mit Löchern. Wir hatten an ein Stemmeisen einen Verlängerungsstiel montiert, und dann haben wir einen Meißel genommen und damit die zusammengenagelten Bretter voneinander getrennt. Mein Vater von der einen, ich von der anderen Seite, ich hab ihm Contra gegeben, und nachdem wir sie getrennt hatten, haben wir gemeinsam an jedem Brett gearbeitet und die Nägel mit der andern Seite des Klauenhammers rausgezogen. Stundenlang im Licht einer kleinen Lampe, einer Birne, die an einem Kabel vom Vordach hing. Dieses gemeinsame Arbeiten mit ihm fehlt mir bis heute.«
    Es geht noch weiter, murmelt sie, hör zu, das ist noch nicht alles.
    »Und jetzt, was ich bereue. Das ist schwieriger. Ich bereue vieles (er lacht). Erzählen Ihnen die Leute das so einfach ohne Zögern? Also, irgendwann mal hatte ich ein Flugticket nach Australien, um auf einer Baumwollfarm zu arbeiten, ich hatte auch schon ein Visum und alles, und dann hab ich hier ein Mädchen kennengelernt und alles abgesagt. Aber die ist es auch wert gewesen, deshalb bereue ich das nur zum Teil.«
    Ruckartig blättert sie um. Ihr Blick fliegt über die Zeilen. Sie liest leise: Meine Liebe, eine Frau hat ihr Notizbuch mit ihrer Lebensgeschichte verloren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie vorhin getroffen habe, als ich ins Wadi runtergestiegen bin. Der geht es nicht gut. Sie wirkt sogar gefährdet (sie war nicht allein). Seit ich sie gesehen habe, frag ich dich, was ich machen soll, und du antwortest nicht. Ich bin es nicht gewohnt, dass du nicht antwortest. Das ist alles ein bisschen verwirrend.
    Ora klappt das Notizbuch zu: Was ist das für einer? Wer ist das?
    Avrams Gesicht ist finster und verschlossen.
    Vielleicht ein Journalist, vermutet sie, der Leute unterwegs interviewt? Aber er sieht gar nicht so aus.
    Arzt, erinnert sie sich, er hatte gesagt, er sei Kinderarzt.
    Wieder stielt sich ihr Blick auf die Seiten : Beim Moschaw Alma treffe ich Edna, 39 , geschieden, Kindergärtnerin aus Haifa: »Am meisten sehne ich mich nach meiner Kindheit in Sichron Jaakov. Von Haus aus bin ich eine Samarin, aus der Familie Samarin, und ich sehne mich nach der Unbefangenheit, nach der Einfachheit von früher. Da war alles weniger kompliziert, nicht so ›psychologisch‹. Sie werden es nicht glauben, ich habe drei große Jungs (sie lacht). Man sieht’s mir nicht an, nicht wahr? Ich hab früh geheiratet und mich noch schneller wieder scheiden lassen, aber ich habe so ein Gefühl, dass ich mit der Mutterschaft noch überhaupt nicht fertig bin. Ich will, wie man so

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