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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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wurde er, ganz gegen seine Art, sehr ruhig. Sogar Adam schaffte es nicht, ihn zum Lachen zu bringen. Ilan und Ora versuchten, etwas aus ihm herauszubekommen, ihn mit Versprechungen für eine Reise in den großen Ferien nach Holland abzulenken, vielleicht sogar auf eine Safari in Kenia, doch vergeblich. Er war betrübt und schlaff und in sich versunken. Damals begriff Ora, wie sehr ihre Lebensfreude davon abhing, dass die Augen dieses Kindes leuchteten.
    Sieh mal, sagte Ilan, sein Blick. Mir gefällt nicht, wie er schaut. Das ist doch kein Kinderblick.
    Auf uns?
    Auf alles. Fällt dir das nicht auf?
    Ihr war das wohl aufgefallen, natürlich hatte sie es bemerkt, doch wie immer – du kennst mich ja, Avram, seufzt sie beim Abstieg vom Berg Meron, du weißt ja, wie ich in solchen Sachen bin – zog sie es vor, über das, was sie sah, nicht nachzudenken, vor allen Zeichen die Augen zu schließen und schon gar nicht darüber zu reden, sondern zu hoffen, dass es von allein vorüberginge. Aber jetzt, das wusste sie, würde Ilan es aussprechen, er würde es definieren, nüchtern und scharf formulieren, und dadurch würde die Sache plötzlich existieren und wachsen und immer größer werden und sich verzweigen.
    Es ist, als ob, sagte Ilan, als ob er etwas wüsste, was wir noch nicht zu wissen wagen …
    Lass ihn doch, das geht bestimmt vorbei. Das sind ganz normale Ängste in diesem Alter.
    Nein, Ora.
    Erinnerst du dich, sagte sie mit einem freudlosen, starren Lächeln, wie Adam, als er drei war, die Frage umtrieb, ob es auch nachts Araber gäbe?
    Aber das hier ist etwas anderes, Ora, manchmal hab ich das Gefühl, dass …
    Weißt du, wir machen ihm einen traumhaften Tag auf der Pferderanch, oder wir kaufen ihm …
    Manchmal hab ich den Eindruck, er schaut uns an, als wären wir …
    Einen Papagei, sagte Ora resigniert, erinnerst du dich, er wollte doch immer einen Papagei …
    Als wären wir auf dem Weg zum Schafott, sagte Ilan entsetzt.

    Dann verlangte er genaue Zahlen. Als er hörte, dass in Israel viereinhalb Millionen Menschen leben, beeindruckte und beruhigte ihn das. Viereinhalb Millionen schien ihm eine gewaltige Zahl. Doch nach zwei Tagen kam ihm ein neuer Gedanke, er war wirklich immer ein praktisches und furchtbar logisches Kind, betont sie für Avram, und auch diesen analytischen Kopf und diese Zielstrebigkeit hat er nicht von dir und nicht von mir, und er wollte wissen‚ wie viele gegen uns sind, und ließ nicht locker, bis Ilan für ihn die genaue Einwohnerzahl aller moslemischen Länder auf der Welt recherchiert hatte. Ofer spannte auch Adam mit ein, der musste ihm beim Rechnen helfen, und sie verzogen sich in ihr Zimmer, und Ora hörte ihr Gemurmel und freute sich, dass ihre beiden Söhne einander so nah waren. Nach einer Weile kam Adam heraus und sagte, Ofer sei ein bisschen traurig, ob sie mal kommen könne. Sie ging hinein und sah Ofer eingerollt, die Hände schützend über den Kopf haltend, auf seinem Bett liegen, er weinte leise. Auf dem Kopfkissen mit dem Bild von Pu und Kaninchen und Ferkel lag ein aus dem Rechenheft gerissenes Blatt, auf dem in Adams Schrift eine sehr lange Zahl stand mit entsetzlich vielen Nullen.
    Die bringen uns um, sagte Ofer mit weit aufgerissenen Augen, alssie ihn auf den Arm nahm. Sein offener Mund zitterte: Mama, sieh doch, wie viele das sind.
    Die bringen uns um, rief Adam, machte kleine Hüpfer auf der Stelle, die-brin-gen-uns-um! johlte er dann heiser, nahm einen kurzen Stock und lief im Zimmer auf und ab und focht mit einem unsichtbaren Feind.
    Adam, jetzt reicht’s, schimpfte sie.
    Die-brin-gen-uns-um! kreischte Adam und rannte merkwürdig ausgelassen durchs Zimmer und stach unters Bett, die-brin-gen-uns-um!
    Ofer weinte laut, Adam tobte, er war wie eine losgelassene Sprungfeder. Ora wusste nicht, wen sie zuerst beruhigen sollte.
    Sei still! schrie Ofer und schlug mit den Fäusten auf ihren Rücken, doch Adam war nicht mehr zu bremsen, er taumelte von einer Ecke in die andere, erstach den Feind, und ein krampfhaftes Lachen gefror auf seinem Gesicht. Ora starrte ihn an: Sie erinnerte sich, wie er sich, als er vier oder fünf war, einmal an sie geschmiegt und gesagt hatte, er wolle ihr »etwas geheimeln«: Immer wenn ich eine Geschichte höre, wo einer stirbt oder verletzt wird, sage ich »das hat er so verdient«, aber in Wirklichkeit sag ich das, damit keiner merkt, dass ich traurig bin.
    Sie setzte sich neben Ofer, streichelte über sein schweiß- und tränennasses

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