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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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»die Streitenden«, schrieb, und erklärte ihm, Aravim , Araber, schreibe man aber mit A, da war er völlig überrascht: Er hatte gedacht, sie hießen so, weil sie immer mit uns streiten.
    Wie zu erwarten, entdeckte er dann eines Tages, dass auch ein Teil der Israelis Araber sind. Ich wusste nicht mehr, ob ich lachen oder weinen sollte, verstehst du? Er begriff, alle seine Berechnungen waren falsch, und jetzt musste er von den Israelis auch noch die arabischen Israelis abziehen.
    Sie erinnert sich, wie er durchdrehte, als er das erfuhr. Er hatte getrampelt und war rot angelaufen, hatte sich auf den Boden geworfen und geschrien, die sollen hier abhauen! Die sollen nach Hause gehen! Warum sind die überhaupt zu uns gekommen! Haben die denn kein eigenes Land?
    Und dann bekam er so einen Anfall, sagt sie, wie damals, als er vier war, mit dem Vegetarismus. Er hatte hohes Fieber, eine Woche lang war ich ganz verzweifelt. Und eine Nacht war er sich ganz sicher, dass ein Araber bei ihm sei.
    In seinem Körper? ruft Avram entsetzt, und seine Augen rasen zur Seite, sie hat das merkwürdige Gefühl, er verstecke etwas vor ihr.
    In seinem Zimmer, korrigiert sie sich leise, so ein Fieberwahn eben, völliger Unsinn.
    Etwas warnt sie, hier müsse sie aufpassen, doch sie weiß nicht, worauf. Avram macht bereits zu. Der Blick der Gefangenschaft erstarrt in seinen Augen.
    Bist du okay?
    Sein Blick ist wie nach innen weggedreht; er zeigt Scham, Schrecken und Schuld. Für einen Augenblick glaubt Ora genau zu wissen, was er sieht, doch im nächsten reißt sie sich da heraus. Ein Araber in seinem Körper, denkt sie. Was haben die ihm angetan? Und warum redet er nicht darüber?
    Diese Nacht werd ich nicht vergessen, sagt sie und versucht, das eben aus Avrams Augen entwichene Entsetzen zu zerstreuen. Ilan war beim Reservedienst im Libanon. Vier Wochen war er nicht zu Hause. Ich habe Adam in unserem Bett schlafen lassen, damit Ofer ihn nicht stört. Überhaupt hatte Adam bei dieser ganzen Geschichte nicht viel Geduld für Ofer, als könne er es nicht mit ansehn, dass Ofer vor etwas Angst hat. Stell dir das vor, und Ofer war – na, wie alt war er da, sechs vielleicht, dann war Adam schon neuneinhalb, aber er konnte es Ofer nicht verzeihen, dass er so zerbrach.
    Ich hab die ganze Nacht bei Ofer gesessen, erzählt sie weiter, er glühte vor Fieber und war ganz verwirrt, und er sah diesen Araber irgendwo im Zimmer, auf Adams Bett, auf dem Schrank, unter dem Bett, wie er durchs Fenster zu ihm hereinschaute. Wahnsinn.
    Ich versuchte, ihn zu beruhigen, machte Licht, holte auch eine Taschenlampe, bewies ihm, dass da niemand war, und zwischendrin versuchte ich auch, ihm ein bisschen die historischen Tatsachen zu erklären, den Dingen die richtigen Proportionen zu geben; ich, die sich so gut auskennt, verstehst du, ich halte ihm mitten in der Nacht einen Vortrag über die Geschichte des Konflikts.
    Und? fragt Avram sehr leise und mit traurigen Augen.
    Nichts. Ich kam gar nicht an ihn ran, er war so elend, dass ich mir schon überlegte, lach nicht, Sami anzurufen, unseren Fahrer, du weißt, den, der …
    Ja, ja.
    Dass er ihm das erklärt, was weiß ich, dass er ihm zeigt, dass auch er ein Araber ist und trotzdem nicht unser Feind, dass er uns nicht hasst und Ofer auch nicht sein Zimmer wegnehmen will. Sie verstummt, schluckt einen bitteren Klumpen runter, die Erinnerung an ihre letzte Fahrt mit Sami.
    Am nächsten Morgen um neun hatte Ofer einen Termin beim Hausarzt. Um acht, nachdem ich Adam zur Schule geschickt hatte, packte ich Ofer in seinen Mantel, setzte ihn ins Auto und fuhr nach Latrun.
    Nach Latrun?
    Ich bin doch eine patente Frau.
    Mit hartem, verschlossenem Gesicht war sie die Stufen hinaufgestiegen, den schmalen Kiesweg entlanggeschritten, hatte sich den im Fieber phantasierenden Ofer von den Schultern gehoben und ihn mitten auf den riesigen Platz der Gedenkstätte der Panzerbrigaden gestellt und gesagt, er solle sich umschauen.
    Er blinzelte benommen, geblendet von der Wintersonne. Um ihn herum standen Dutzende von Panzern, alte und neue. Geschützrohre und Maschinengewehre zeigten auf ihn, sie nahm ihn an der Hand und führte ihn zu einem besonders großen Panzer, einem sowjetischen T55. Ergriffen stand er da. Sie fragte ihn, ob er genug Kraft hätte, da raufzuklettern. Darf ich denn? Erlaubst du mir das? Sie half ihm, auf den Turm zu klettern, und kletterte hinterher. Da stand er, wankte ein bisschen, schaute ängstlich um sich und

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