Eine Frau flieht vor einer Nachricht
schön sagt, nochmal so was Kleines auf dem Arm halten, das mir das Herz erwärmt. Und was die Reue im Leben angeht (Edna lacht), da hab ich einen ganzen Sack voll. Haben Sie die Kraft, das alles aufzuschreiben?«
Ein Sog zieht Ora hinein. Sie blättert schnell weiter und sieht, auf jeder Seite: Sehnsucht und Reue.
Ich verstehe nicht, murmelt sie und hat das Gefühl, er habe sie in die Irre geführt: Er wirkte doch so – sie sucht nach dem Wort – solide? schlicht? privat? nicht wie einer, der … der Leute nach solchen Sachen fragt.
Avram schweigt. Gräbt mit der Schuhspitze in den Steinchen des Weges.
Und warum in meinem Notizbuch? fragt Ora laut, gibt es keine anderen Notizbücher?
Damit dreht sie sich zum Gehen, reckt den Kopf und drückt das Notizbuch an die Brust. Avram zuckt mit den Schultern, schaut sichum – keiner da, der Mann schläft wahrscheinlich noch – und geht hinter ihr her. Das verblüffte leichte Lächeln auf ihren Lippen sieht er nicht.
Sag mal, Ora …
Ja.
Will Ofer, wenn er mit dem Militär fertig ist, nicht irgendwo hinfahren?
Er soll erstmal da fertigmachen, fährt sie dazwischen, und Avram schweigt.
Er hat schon mal davon geredet, sagt sie später, vielleicht nach Indien.
Indien? Avram verbeißt sich ein Lächeln, unterdrückt einen wilden Gedanken, dann soll er zu mir kommen, ins Restaurant, ich kann ihm viel über Indien erzählen.
Er hat sich noch nicht entschieden. Adam und er wollten zusammen fahren.
Beide? Sind sie sich denn so …
Nahe, vollendet sie seinen Satz, ja, beste Freunde, ein bisschen Stolz glitzert in ihr, wenigstens das ist ihr gelungen. Ihre beiden Söhne sind enge Freunde.
Ist das üblich?
Was?
Dass zwei Brüder in diesem Alter –
Die beiden waren fast von Anfang an so.
Aber hast du nicht gesagt … Hast du nicht erzählt, dass Ilan und Ofer …
Das hat sich geändert, sagt sie, damals hat sich dauernd was verändert. Wie soll ich dir denn das alles erzählen?
Es ist, als wolltest du das Fließen eines Flusses beschreiben, begreift sie, einen Strudel malen, oder Flammen. Es ist ein immerwährendes Geschehen, sie freut sich über diese Wortverbindung, die er früher benutzt hat: Familie ist ein immerwährendes Geschehen.
Sie erzählt: Adam ist sechs und ein paar Wochen, Ofer ist fast drei. Adam liegt auf der Wiese im Hof in Zur Hadassa. Die Arme links und rechts weggestreckt, die Augen geschlossen. Er ist tot. Ofer läuft durchdie Fliegengittertür dauernd rein und raus, die Geräusche wecken Ora aus einem seltenen Mittagsschlaf. Sie schaut durchs Fenster und sieht, dass Ofer Adam Geschenke bringt, eine Art Opfergaben, die ihn wieder lebendig machen sollen. Alle seine Stofftiere trägt er nach draußen, und ein Spielzeugauto und das Kaleidoskop, die Brettspiele und Murmeln; seine Lieblingsbücher und ausgewählte Videokassetten häuft er um Adam auf. Er ist besorgt und dabei außer sich. Immer wieder springt er über die vier großen Betonstufen ins Haus. Ein ums andere Mal kehrt er zu Adam zurück und legt seine liebsten Gegenstände um ihn herum. Adam rührt sich nicht. Nur wenn Ofer im Haus ist, hebt er ein bisschen den Kopf, macht ein Auge auf und beäugt die letzte ihm dargebrachte Opfergabe. Sie hört ein Schnaufen. Ofer zieht seine Lieblingsdecke hinter sich her und legt sie vorsichtig über Adams Beine. Danach schaut er ihn mit flehendem Blick an und sagt etwas, was sie nicht hören kann. Adam rührt sich nicht. Ofer ballt die Fäuste, schaut um sich, rennt wieder ins Haus. Adam bewegt die Zehen unter Ofers Decke. Wie grausam er sein kann, denkt sie, und seine Grausamkeit hypnotisiert sie so sehr, dass sie nicht in der Lage ist, dieser Qual ein Ende zu machen. Durch die geschlossene Tür hört sie Geräusche eines Kampfes und großer Anstrengung. Etwas Schweres wird mühsam gezogen. Stühle werden weggeschoben, Ofers schwerer Atem wird unterbrochen von abgehacktem Stöhnen. Einen Moment später erscheint seine Matratze oben im Treppenhaus, erhebt sich hoch über seinem Kopf. Ofer ertastet mit dem Fuß die oberste Stufe. Ora erstarrt, beherrscht sich, nicht zu schreien, um ihn nicht zu erschrecken, damit er nicht fällt. Adam öffnet einen Spalt breit ein Auge, sein Gesicht zeigt eine Mischung aus ungläubigem Staunen und Hochachtung für seinen winzigen Bruder, der auf dem Kopf eine Last trägt, die schwerer ist als er selbst. Ofer steigt die Treppe hinunter, wankt unter der riesigen Matratze vor und zurück. Stöhnt, schnauft, wackelt
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