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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sehen sie bisher nicht gewagt hat. Sie beide, Adam und Ofer, stammen aus der Wurzel ihrer Seele. Eine Doppelhelix. Adam verhängt »Gute Nacht« und schnarcht sofort laut, und Ofer ächzt in seinem Bett und bettelt, Adam, schlaf nicht, schlaf jetzt nicht, ich hab Angst vor dem Verrückten Tod, kann ich zu dir ins Bett kommen? Schließlich hört Adam auf zu schnarchen und erfindet für ihn einen »Skort« oder den»Stark« oder den »Falkenmann«, er erklärt ihm ausführlich deren Eigenschaften und Wesenszüge, und je länger er redet, umso weicher wird seine Stimme, und Ora spürt, wie er es jetzt genießt, Ofer von allen Seiten zu beschützen, ihn mit den Kissen seiner Vorstellungskraft zu polstern, der einzigen Quelle seiner Kraft. Und auch diese Kissen, Adams Güte, sein Mitleid, sein Beschützenwollen, das alles stammt auch ein bisschen von ihr, und plötzlich hört sie mitten in Adams Redefluss das weiche Summen von Ofer, wenn er einschläft.
    Unentwegt planen sie Hinterhalte: In jeder Ecke im Hof und im Garten stellen sie Androidenfallen auf, in die aber vor allem Ora hineintappt, aus bunten Pappröhren, Besenstielen und Nägeln erschaffen sie unglaubliche Tiere, aus Pappkartons futuristische Fahrzeuge, sie entwickeln teuflische Waffen, mit denen sie die Bösen oder auch die ganze Menschheit qualvoll vernichten können, je nachdem, wie Adam gerade gelaunt ist. In einem besonderen Labor ziehen sie sich in mit Wasser gefüllten, geschlossenen Gläsern, in denen auch ein paar Blütenblätter schweben, Plastiksoldaten. Jeder Soldat dieser tristen Geisterarmee besitzt einen Namen, einen Dienstgrad und auch eine genaue Biographie, die sie beide im Kopf haben, und jeder hat eine tödliche Mission, die er erfüllen muss, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Tagelang bauen sie Kartonschlösser für Drachen und Ninja-Schildkröten, richten Schlachtplätze für Dinosaurier her, malen in giftigem Schwarz-Gelb-Rot Ritterschilde, und auch hier ist meistens Adam der Denker, Erfinder, Phantast, der »Herrscher des Labyrinths«, und Ofer ist der Elfe, der verzauberte Geist, der Gehorsame, der Ausführer. Auf seine langsame und abgewogene Art erklärt Ofer Adam die Grenzen des Möglichen und formt mit geschickten Händen die massiven Bausteine, aus denen später die Luftschlösser seines Bruders gebaut werden.
    Aber das ist noch nicht alles, erzählt Ora, die ihre beiden möglichst oft belauscht und beobachtet hatte: Denn Ofer, erklärt sie, hat von Adam gelernt, und er hat ihn gelernt. Was meinst du damit, fragt Avram; wie soll ich dir das erklären, sagt sie lachend und irgendwie etwas verlegen, ich habe wirklich mitverfolgt, wie Ofer begriffen hat, dass er den Code knacken kann, nach dem Adams Kopf funktioniert, wie Adam in Gedanken von A zu Z hüpft, und wie er manchmal auf einen Schlag seine Idee umkehrt, wie er mit allerlei Absurditäten und Paradoxenspielt. Am Anfang hat Ofer ihn nur so nachgeahmt, hat Adams Geistesblitze einfach wie ein Papagei wiederholt, aber nach und nach hat er das Prinzip verstanden, und als Adam von einer Treppe, die die Treppe runtergeht, erzählte, kam Ofer mit einer Wohnung, die umzieht, mit Geld, das Geld kauft, mit einem Weg, der einen Ausflug macht, und dann erfand er sein erstes Paradox: ein König, der seinen Untertanen befiehlt, ihm nicht zu gehorchen. Es war so schön, zu beobachten, wie Adam Ofer formte und ihm im Grunde auch beibrachte, wie man mit ihm selbst umgehen musste, mit einem, der so besonders, so sensibel und so verletzbar war. Er hat Ofer den geheimen Schüssel zu sich gegeben, und diesen Schlüssel besitzt bis heute nur Ofer. Ihr Gesicht wird weich und strahlt, doch sie weiß nicht, ob es etwas bringt, Avram das alles zu erzählen, diesem einsamen Wacholderstrauch. Kann er ihr überhaupt so weit folgen, in diese schwer greifbaren Tiefen der Seele, wo er, Avram, doch ein Einzelkind war und schon so früh auch keinen Vater mehr hatte. Aber er hat Ilan gehabt, antwortet sie sich selbst sofort, Ilan war ihm wie ein Bruder. Und die zwei hättest du hören müssen, sagt sie zu Avram, ihre endlosen, aberwitzigen Gespräche. Ich hätte stundenlang zuhören können …
    Doch das Duo der kleinen Gesichter verzieht sich vor ihren Augen, beide zeigen dieselbe Unzufriedenheit: Mama, jetzt geh schon. Du störst uns!
    Beleidigung und Wonne stoßen sich in ihr: Sie stört! aber ihre beiden kennen schon das Gefühl von »uns«. Es reißt sie entzwei, und gleichzeitig ist sie glücklich.
    Da

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