Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
auf zittrigen Beinen vorwärts. Er kommt bei Adam an und fällt mit der Matratze neben ihn. Adam stützt sich auf die Ellbogen und schaut ihn mit aufgerissenen Augen dankbar an.
    Plötzlich begreift Ora-hinterm-Fenster, dass es sich hier nicht um eine Grausamkeit Adams handelt; vielmehr prüft er Ofer ernsthaft, ob er einer viel größeren, wirklich schicksalsträchtigen Aufgabe gewachsenist, von der Ora damals noch nicht ahnt, worin sie besteht; Ora denkt nur, es sei seine übliche Aufgabe, die schon schwierig genug ist, nämlich die, Adams kleiner Bruder zu sein.
    Was meinst du damit? fragt Avram zögernd.
    Warte. Schön langsam.
    Du bist also nicht mehr tot? fragt Ofer. Ich lebe, sagt Adam, springt auf und fängt an, mit seitlich ausgestreckten Armen quer über den Hof zu rennen, ich lebe, ich lebe, und Ofer hüpft hinter ihm her, lächelt völlig erschöpft.
    Vielleicht hat Ilan Adam betrogen, sagt sie, aber Ofer hat ihn nie betrogen.
    Klein, schmal und stammelnd, alle mit seinem Blick verzaubernd, mit seinen großen blauen Augen, dem goldfarbenen Haar und seinem feinen, staunenden Lächeln: Er spürte bestimmt schon damals, dass er mühelos die Herzen erobert, nur mit seiner Zugewandtheit, seiner Freundlichkeit. Und natürlich, denkt sie, hatte er auch schon gemerkt, dass überall, wo er mit Adam auftaucht, die Augen immer seinen rastlosen, sich allem entziehenden, beunruhigenden älteren Bruder überspringen und bei ihm verweilen. Überleg nur, was für eine Versuchung das für ein Kind ist, sagt sie leise, alles einzuheimsen, auf Kosten seines Bruders.
    Und das hat er nie gemacht. Wirklich nie. Immer, in jeder Situation, hat er sich für Adam entschieden.
    Schon mit seinen ersten Schritten, erinnert Avram sie.
    Das hast du dir gemerkt, sagt sie froh.
    Ich merke mir alles, sagt er, streckt die Hand aus und umfasst ihre Schulter, und so gehen sie, seine Eltern, die Köpfe dicht beisammen.

    Sie sind neun und sechs, einer lang und dünn, der andere noch ganz klein, sie rennen zusammen herum, reden wild gestikulierend, als kletterten sie einer auf die Ideen des andern. Komplizierte, aberwitzige Gespräche, über Orks und Gnome, Vampire und unsterbliche Monster. Aber Adam, zwitschert Ofer, ich hab noch nicht verstanden, ein Wolfsmensch, ist das ein Kind, das in einer Familie von Wölfen geboren wurde? Kann sein, antwortet Adam ernst, aber es kann auch sein, dass er einfach an Lykanthropie leidet. Ofer ist für einen Moment fassungslos,danach versucht er das Wort auszusprechen, verfängt sich in den Silben. Adam erzählt ihm ausführlich von der Krankheit, die Menschen oder menschenähnliche Wesen zu Menschentieren macht. Sag mal Lykanthropie, sagt Adam und seine Stimme bekommt etwas Forderndes, und Ofer sagt es.
    Vor dem Schlafengehen, im Dunkeln, in ihren nicht weit auseinander stehenden Betten, unterhalten sie sich: Ob der grüne Drache, der beim Atmen eine Wolke Chlorgas ausstößt, wohl gefährlicher ist als der schwarze, der in Sümpfen und Salzadern lebt und dessen Atem aus reiner Säure besteht? Ora bleibt mit einem Arm voll Wäsche neben der angelehnten Tür des Kinderzimmers stehen, drückt sich an die Wand und hört zu. Aber den »Verrückten Tod« … gibt es den wirklich? fragt Ofer, seine Stimme ist heiser. Hör mir bis zum Ende zu, sagt Adam und kommt so richtig in Fahrt, einmal am Tag vereinigen sich alle verrückten Zombies des Verrückten Todes und werden zu einem riesigen todverrückten Ball. Aber das ist nicht wirklich, oder? forscht Ofer mit inzwischen ganz dünner Stimme nach. Den habe ich erfunden, verrät Adam, deshalb gehorcht er auch nur mir. Dann erfinde auch mir was, fleht Ofer, erfinde mir was gegen ihn. Adam brummt vor sich hin, vielleicht morgen. Nein, jetzt, drängt Ofer, ich kann die ganze Nacht nicht schlafen, wenn du mir nicht was erfindest. Nein, erst morgen, sagt Adam scharf, und Ora hört sie beide, und mehr noch die feinen, in ihre Stimmen mit eingeflochtenen Drähte, die sich miteinander verweben, Drähte der Angst, der nackten Grausamkeit, und sie hört auch das ergebene Flehen, die Macht zu retten und die Weigerung zu retten – wobei die Weigerung vielleicht nichts anderes ist als die Kehrseite der Angst, sich selbst retten zu lassen. Das alles haben sie doch von ihr, sogar Adams Grausamkeit, die sie empört und ihr so fremd ist, die sie aber in diesem Moment auch auf sonderbare Art erregt, sie wie wild zum Sprechen bringt, als offenbare sie ihr etwas über sich, das zu

Weitere Kostenlose Bücher