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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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wie eine Art ehrfurchtsvolle Lähmung vor dem fiebernden Jungen, der sich an ihren Arm schmiegte. Anscheinend fühlte er ganz ehrlich und aufrichtig, dass er sich hier von seinem Leben verabschiedete, deshalb vertraute er ihr seine größten Geheimnisse an, und sie musste bloß neben ihm stehen, ihm ihre Hand geben und manchmal sanft über seinen Kopf, seinen Nacken oder seinen Rücken streicheln und ihm ein, zwei Worte sagen, damit er spürte, dass er in diesen Momenten nicht allein war. Und sie dachte, sie hätte nichts dagegen, wenn es bis zum Morgen so weiterginge, von mir aus sogar noch einen ganzen Tag, ich will ihm helfen, dachte sie, ich will, ich will. Ihr Körper brannte und juckte vor lauter Wollen, sogar ihre Füße brannten, wie lange hatte sie solche Ströme nicht mehr gespürt, und Ilan tastete und fand ihre andere Hand, legte sich ihre beiden Hände auf die geschlossenen Augen und sagte, er wisse, wie man immer glücklich sein könne.
    Glücklich? fragte Ora nach. Ihr blieb fast die Luft weg, und für einen Moment zog sie die Hände zurück, als hätte sie sich verbrannt:Wie das? Ich habe da eine Methode entwickelt, sagte er, ich teile mich in verschiedene Zonen auf, und wenn es mir an einer Stelle in der Seele schlechtgeht, springe ich einfach zu einer anderen. Sein Atem züngelte um ihr Handgelenk, und sie spürte, wie seine Wimpern ihre Handfläche kitzelten. Sein Gesicht tastete sich zu ihrem Bauch und drückte sich daran. Das darfst du wirklich niemandem erzählen, sagte er leise zu ihrem Bauch, ich verlass mich ganz auf dich, du bist echt in Ordnung, du bist nicht wie die andern Jungs. Ora korrigierte ihn nicht. Sie stand da und schwieg, spürte, wie sich eine kreisende Wärme von ihrem Bauchnabel aus in alle Körperteile verbreitete.
    So verteile ich die Risiken, sagte Ilan, zog den Kopf schnell zurück und lachte trocken, etwas gequält: Mich kann keiner verletzen, ich springe einfach weg …
    Mitten im Satz überfiel ihn tiefer Schlaf. Seine Finger öffneten sich, ließen los und glitten an ihren Armen hinunter, bis sie in seinen Schoß rutschten, und sein Kopf sank auf die Brust. Ora blieb eine Weile stehen, kniete sich dann vor ihn und hielt seine Hände, bestaunte die Länge und die feinen Finger, und es versetzte ihr einen Stich, dass solche Finger so steif sein konnten und so viel kämpfen mussten. Sie legte die Stirn auf seine Knie, nahm seine Hand, legte sie sich wie streichelnd auf den Kopf und redete leise auf ihn ein, sie redete und redete, und was sie ihm erzählte, hatte sie schon seit Jahren niemandem erzählt, wie war das nur gekommen, das hatte sie doch Avram erzählen wollen, aber Avram, dieser Idiot, diese Seele von einem Verräter, war einfach aufgestanden und abgehaun, und nur Ilan war ihr geblieben.
    Nach einer Weile stand sie auf, zündete ein Streichholz an und leuchtete zum ersten Mal Ilans Gesicht an, er hob sein Gesicht mit geschlossenen Augen zum Licht, und in dem hellen Kreis war sein Gesicht ein Tropfen einziger Schönheit, wer hätte das gedacht, wie aus dem Märchen war er hier bei ihr gelandet, ein schlummernder Dornros. Sie riss noch ein Streichholz an, und er murmelte weiter, stritt sich im Traum mit jemandem, schüttelte kräftig den Kopf, und auf seinem Gesicht wechselten Zorn und Abscheu, vielleicht wegen des blendenden Lichts, vielleicht wegen etwas, was er vor seinem inneren Auge sah, und seine dunklen buschigen Augenbrauen zogen sich streng zusammen,und Ora stand selbstvergessen vor ihm und beleuchtete weiter seine reine Stirn, die Form seiner Augen, seine hinreißenden Lippen, die waren heiß und ein bisschen rauh, und sie brannten jetzt noch auf den ihren.

    Zeigst du denn jemandem, was du da schreibst? Ja, das war genau der Ton, den sie gesucht hatte: Scharf, verächtlich, kalt und distanziert, so ein Ton, der ihm genau zeigte, was sie von ihm hielt, dieser aufgeblasene Protz, dieser blöde. Nein, murmelte Avram erschreckt, wie kommst du darauf, niemandem. Woher weißt du dann, dass es überhaupt was wert ist? Vielleicht ist es gar nichts wert? Man muss es jemandem zeigen, machte sie genauso weiter, jemandem, der dir sagen kann, ob es gut ist oder bloßes Geschreibsel. Ich weiß wirklich nicht, ob es gut ist, seufzte Avram, ich fühl es nur, so was fühlt man, man fühlt es hier – und er schlug sich plötzlich mit geballter Faust gegen die Brust, stark, zwei-, dreimal, als wolle er sich bestrafen, vielleicht dafür, dass er ihr so vertraut hatte.

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