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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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versucht, ihn zu beruhigen, seine merkwürdigen Worte abzutun, doch er hörte sie nicht, vielleicht wusste er ja gar nicht, dass sie neben ihm stand. Ohne Hemmungen beweinte er sein Leben, das mit der Scheidung seiner Eltern zerstört worden war. Sein Vater habe ihn zu sich genommen, in sein Camp, und er müsse jetzt mit diesen Tieren dort zusammenwohnen. Seitdem gehe bei ihm alles schief, klagte er, und die Krankheit sei bloß eine Fortsetzung dieser allgemeinen Scheiße. Er hatte geglüht, die Hälfte von dem, was er sagte, verstand sie nicht, gemurmelte Brocken und Geflüster, deshalb hatte sie auch so nah bei ihm gestanden, eingehüllt in seine Wärme, hatte vorsichtig seine Schulter gestreichelt und ab undzu auch die Schulterblätter und den Rücken, und manchmal, dann schlug ihr das Herz bis zum Hals, strich sie auch kurz über sein volles Haar und dachte sich dabei, dass sie noch nicht einmal wusste, wie er aussah, und vielleicht hatte sie sich sogar verschwommen vorgestellt, er sehe Avram ähnlich, bloß weil die beiden zusammen in ihr Leben getreten waren, und sie sagte ihm auch Sachen, die Avram zu ihr gesagt hatte, als sie Angst gehabt hatte oder elend dran war. Dank Avram, diesem Idioten, wusste sie, was sie sagen musste. Und plötzlich hatte Ilan ihre Hand genommen, sie richtig umfasst und ihr über den Arm gestreichelt, in voller Länge, und sie war erschrocken, hatte die Hand aber nicht zurückgezogen, und er kuschelte seine Wange und die Stirn an sie, drückte sich ihren Arm an die Brust und küsste sie plötzlich, übersäte ihren Arm mit kleinen, trocken glühenden Küssen, küsste ihre Finger, die Innenseite ihrer Hand, sein Kopf vergrub sich richtiggehend in ihrem Körper, und Ora stand stumm da, schaute im Dunkeln über seinen Kopf und dachte staunend: Er küsst mich, und ich weiß nicht einmal, wie er aussieht, und er weiß gar nicht, dass er mich küsst. Plötzlich hatte Ilan vor sich hin gelacht, gelacht und gezittert und gesagt, manchmal schleiche er sich nachts hinaus und schreibe mit Kreide an die Baracken des Camps »Der Sohn vom Basischef ist ein Homo«. Diese Graffiti machten seinen Vater wahnsinnig, und der rannte dann mit einem Eimer Tünche los, übermalte sie und legte sich danach auf die Lauer, um den zu schnappen, der das geschrieben hatte, aber wehe dir, Junge, wenn du das jemandem erzählst, kicherte er und bekam wieder Schüttelfrost, das erzähl ich nur dir, und er erzählte mit heiserer Stimme von der dicken Soldatin, die sein Vater in seinem Büro fickte, so dass das ganze Camp sie hörte, aber sogar das ist besser als das Theater meiner Alten, als die noch zusammen waren, sagte er, wenigstens der Albtraum ist jetzt vorbei, ich werd im Leben nicht heiraten, knurrte er, und seine Stirn glühte an ihrer Brust, dass es weh tat, und sie drückte ihn an sich und dachte, er redet wirklich wie einer, der ein ganzes Jahr lang mit keinem Menschen geredet hat.
    Er ächzte, warf seinen Kopf hin und her, und sie versuchte, ihn zu beruhigen, hielt sein Gesicht in den Händen, fragte vorsichtig, warum er keinen Freund habe, keinen, dem er sein Herz ausschütten und dem er vertrauen könne, und Ilan hielt inne, schwieg eine Weile, so alshabe er die Frage verstanden und sinne nun ernsthaft darüber nach, doch im nächsten Augenblick erzählte er von einem Laden für Musikinstrumente aus zweiter Hand in der Allenbystraße, ich bin ganz verrückt nach dem Geruch dort, sagte er lachend, vergrub seinen Kopf in Oras Armbeuge und sog ihren Geruch ein; ein süßer Geruch, erklärte er ernst, von dem Kleber, mit dem man die kleinen Polster anklebt, die die Tonlöcher des Saxophons verschließen, und er erzählte, er habe dort vor einem Jahr tatsächlich ein gebrauchtes Selmer-Paris in gutem Zustand gefunden. In Tel Aviv hatte ich eine Band, erzählte er. Freitags haben wir zusammengesessen, die ganze Nacht neue Platten gehört und Coltrane und Charlie Parker kennengelernt, und wir haben Tel Aviver Jazz gemacht.
    Seit er nach Jerusalem gezogen sei und sein Vater das Selmer-Paris beschlagnahmt habe, gehe er am liebsten ins Kino. Kino, das sei klasse, das halte ihn am Leben. Jede Woche gehe er mindestens in zwei Filme, allein, natürlich allein, mit niemand anderem amüsiere er sich so gut wie mit sich selbst. Wenn er allein gehe, müsse er danach auch nicht über den Film reden, denn mit Reden würde man doch bloß alles kaputtmachen, oder?
    Die Hitze seines Körpers drang in sie ein, überfiel sie

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