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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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bloß alle betrogen und mit offenen Augen geschlafen. Das war ihre große Errungenschaft. Spezialistin im Betrügen, Weltmeisterin im Tagschlafen. Sie hatte geschlafen, wenn sie rannte, Hochsprung machte und Volleyball spielte, am tiefsten, wenn sie schwamm, im Wasser tat es viel wenigerweh als auf dem Trockenen. Sie hatte geschlafen, wenn sie am Schabbat mit der Mannschaft ins Stadion von Ejn Iron fuhr, und manchmal sogar auf den Platz von Makkabi Tel Aviv, vom Planwagen hatte sie zusammen mit den andern den Passanten zugegrölt, zu den Autofahrern gewagte Handbewegungen gemacht, während die Wagenplane über ihr flatterte und wie ein Segel schlug, und keiner merkte, dass sie schlief, dass sie überhaupt nicht da war, dass sie schon seit zwei Jahren an einem Nichtort war.
    Sie schlief auch, wenn sie mit den Mädchen über Liebe, Anfassen und Schmusen redete, oder sie dämmerte zumindest vor sich hin, denn hier war sie trotz allem ein bisschen angespannt, wie war das möglich, niemand merkte, dass Ora keinen blassen Schimmer hatte, wovon sie redete, und dass sie innerlich leer und trocken war. Ihre Mutter sagte, das ganze Rennen und Schwimmen habe ihre Entwicklung angehalten, doch Ora wusste, es war seit Ada, dass ihr Busen angehalten hatte, und manchmal meinte sie sogar, das Wenige, was sie gehabt hatte, bilde sich wieder zurück.
    Da ist ein Loch, denkt sie, und ihr wird kalt, sie bekommt eine Gänsehaut. Nicht erst jetzt, es ist schon lange da, wie kommt es, dass ich es nicht gesehn habe. Ein Loch in Oras Umrissen, seit das mit Ada war, genau da, wo ich mal gewesen bin.
    Sich vorzustellen, dass sie anderthalb Jahre in tiefem Dämmer neben Avner Feinblatt hergelaufen ist, der nur alle zwei Wochen vom Internat frei bekam und ihr dann lang und breit von Schießübungen, Übungsmärschen erzählte und wie er sich da einen Wolf gelaufen hatte, und er nannte sie Sussman und berührte sie nie, noch nicht mal mit dem kleinen Finger. Pro Woche schickte er ihr einen Brief, rügte sie immer wegen ihres zu kurzen letzten Briefs und verlangte, dass sie ihm längere Briefe schrieb, es gehe doch nicht an, dass alle seine Zimmergenossen von ihren Freundinnen so viel längere Briefe bekamen. Und immer unterschrieb er, in Verbundenheit, dein Avner Feinblatt.
    Sie schnappt nach Luft, schreckt auf. Anscheinend war sie wieder mitten im Streit mit Avram eingeschlafen. Worüber haben sie gestritten? Warum streiten sie dauernd? Was an ihm bringt sie so auf? Vielleicht hatten sie sich auch schon versöhnt? Im Dunkeln ahnt sie Avram zusammengekauert am anderen Ende des Bettes. An die Wandgelehnt, schnarcht er schwer. Ist das sein Zimmer oder ihres? Und wo ist Ilan?
    Und jetzt denk mal nach, befiehlt sie sich und zieht sich mühsam hoch, bis sie sitzt: Jetzt ist dein Kopf grad offen, jetzt musst du ein bisschen nachdenken.
    Eineinhalb Jahre hat sie sich bemüht, Avner spannende Briefe zu schreiben, sich den Kopf zerbrochen, worüber sie ihm schreiben sollte. Was konnte sie ihm schon erzählen. Er bewunderte James Bond, deshalb schnitt sie aus den Zeitungen Fotos von Sean Connery aus und Artikel, in denen er erwähnt wurde, sogar Kreuzworträtsel. Avner hatte auch ein Hobby: Er sammelte Schlüsselanhänger. Bei sich zu Hause in Holon hatte er eine Sammlung von vierhundertdreißig Schlüsselanhängern, und Ora fing sofort an, für ihn zu sammeln, und gab sich große Mühe, den ihnen innewohnenden Zauber zu erspüren, und nachdem er ihr etwas von dem Schlüsselanhänger eines Kameraden aus dem Internat vorgeschwärmt hatte, einer von M ARTINI , den man auch als Lupe verwenden konnte, brach sie zu einer langen Suchexpedition und zu Tauschgeschäften auf und besorgte ihm schließlich das ersehnte Stück. Als sie ihm den überreichte, schaute er ihr tief in die Augen, und da öffnete sich gleichsam ein kleines Türchen, und Ora dachte, hier, jetzt, und ihr Kopf neigte sich schon ein bisschen zurück, und ihre Lider klapperten ganz von alleine, doch das kleine Türchen schloss sich im nächsten Moment, und er schaute sie wieder mit seinem guten Blick an und sagte voll ehrlicher Anerkennung: Gut gemacht, Sussman!
    Schalom, liebe Ora, schrieb er ihr, nachdem sie ihm den M ARTINI geschenkt hatte – sie hatte seinen Brief mit zitternden Fingern geöffnet. Vielleicht würde er diesmal, vielleicht schriftlich – bei mir gibt es nicht viel Neues, aber da ich gestern einen kurzen (sehr kurzen!) Brief von dir erhalten habe, muss ich antworten. Was tut

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