Eine Frau flieht vor einer Nachricht
glänzte im Dunkeln. Etwas in ihr hatte zu fließen begonnen, ein stilles, uraltes Wissen: Er war Künstler, das war er, einfach Künstler, und sie wusste, wie das mit Künstlern ist. Da hatte sie Erfahrung. Zwar hatte sie diese Erfahrung schon lange nicht mehr verwendet, aber jetzt kehrte sie zurück und füllte sie ganz aus. Sie wird gesund werden, wird die Krankheit besiegen, das weiß sie plötzlich mit großer Gewissheit, da hat sie jetzt ein ganz klares Gefühl, weibliche Intuition.
Sie schaute nicht in seine Richtung, doch in diesem Moment erkannte sie ihn. Ganz und gar. Sie wusste doch, besser als die meisten Menschen, wie viel Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit in den einfachen, scheinbar beiläufigen Fragen »Was meinst du?« oder »Glaubst du, das haut hin?« oder »Ist das nicht eine echt idiotische Idee, Ora?« mitschwangen.
Sie schloss die Augen, und eine leichte, lustvolle Erschütterung durchzog ihren Körper: Wie hatte sie in einem plötzlichen Impuls den Mut gehabt, sich zu einem fremden Jungen hinunterzubeugen und ihn lange auf den Mund zu küssen. Sie hatte geküsst und geküsst und geküsst. Und jetzt, wo sie endlich den Mut hatte, sich ohne Hemmungen zu erinnern, spürte sie den Kuss, ihren ersten Kuss, wie er in sie drang, sie zum Leben erweckte. Das lebendige Blut aufrührte. Und was wird jetzt, dachte sie, mit wem von beiden soll ich – doch gerade jetzt war ihr Herz leicht und fröhlich. Schon seit Jahren war es nicht mehr so offen und überquellend gewesen. Als sei jemand unbemerkt und heimlich gekommen und habe die Verwicklung in ihr gelöst, und bald würde bestimmt auch sie die Lösung erfahren. Und schön ist er, dachte sie in einem wonnigen Gefühl, wirklich wie ein himmlischer Engel, noch nie hab ich einen so schönen Jungen gesehen, zart und gleichzeitig stark, sogar mit seinem zornigen Gesichtsausdruck, als er die Stirn zusammenzog, hat er nichts von seiner Zartheit verloren, und was bedeutet es, dass wir uns geküsst haben und er bestimmt gar nichts davon weiß. Ich würde sterben, wenn er es doch wüsste.Wie kommt es, dass ich ausgerechnet den geküsst hab und nicht den anderen?
Ich schwör dir, ich werd das aufschreiben, sagte Avram irgendwo neben ihr. Dünn, jauchzend und überrascht hüpfte ein Kichern aus seinem Mund. Ihr Bein berührte für einen Moment sein Bein. Sie schwiegen, lärmten jeder in sich selbst, spürten, dass sie beide einer großen Gefahr entronnen waren, dem endgültigen, totalen Streit, und sie verstanden nicht, wie das geschehen war, und Ora dachte, sie würde gleich aufstehen und auf dem Bett tanzen, die Beine in die Luft werfen. Soll die Welt doch untergehn.
Um die Wahrheit zu sagen, auch ich schreibe ein bisschen, gestand sie ihm zu ihrer großen Überraschung.
Wirklich?
Nur so, nicht wie du. Das hab ich bloß so gesagt, fuhr sie rasch fort, versuchte, den Mund zu halten, und konnte es nicht, schon wieder versaute sie sich alles, sie dachte aber auch keinen viertel Schritt voraus! Keine richtigen Gedichte, vergiss es, ich hab das bloß so gesagt, Lieder für Ausflüge, Arbeitseinsätze, Quatsch eben, aus der Gattung der Limericks.
Ach so. Er lächelte merkwürdig traurig, zog sich auf eine Art Höflichkeit zurück, die ihr einen Stich versetzte. Vielleicht singst du mir eins vor?
Sie schüttelte energisch den Kopf, bloß nicht, bist du verrückt geworden? Nie im Leben.
Denn obwohl sie ihn noch kaum kannte, wusste sie schon genau, wie sie sich fühlen würde, wenn ihre Verse, die ihr den Namen »die Naomi Schemer unserer Klasse« eingebracht hatten, zusammen mit den ganzen verschrobenen und snobistischen Gedanken in seinem Kopf widerhallen würden. Doch gerade dieser Gedanke weckte in ihr den Drang zu singen. Warum genierte sie sich vor ihm? Wirklich, warum hatte sie die ganze Zeit Angst, was er über sie denken könnte?
Aber du versprichst mir, nicht zu lachen? wollte sie nachdrücklich, ja sogar streng fragen, aber es kam ganz anders raus – sie zierte sich, plötzlich hatte sie diese Allüren, das, was Miri ihr schon seit Jahren beizubringen versuchte, und am merkwürdigsten war, dass sie es nicht unter Kontrolle hatte, als sei sie eine Art Handpuppe, in die jemandanders seine Hand steckt und sie hin und her bewegt, gleich wird sie sich niederwerfen, gleich wird sie stupide lächeln, vielleicht musste sie aufpassen, denn plötzlich spürte sie, dass sie an einem gefährlichen Ort war, im nächsten Moment würde sein Sog sie hineinreißen,
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