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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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jüdischer Pilot im Gebüsch bei Kilometer 253; Befehl an euch, bereitet euch vor und haltet Funkstille, so dass die Juden ihn retten kommen können, erst dann Feuer frei.
    Und meine Mutter, sagte Avram schwer atmend, auch wenn ihr es nicht verdient habt, etwas über sie zu erfahren, ihr Wichser, ihr Verräter eures Bruders …
    Ilan presste die Hände auf die Seitenwände des Gerätes, bis seine Finger weiß wurden. Meine Mutter, schnarrte Avrams Stimme, die ist schon tot, die war mit einem Schlag tot, aber sie hatte immer … Er schluckte, sie hat immer Geduld für mich gehabt, so wahr ich lebe. Erkichert »so wahr ich lebe« – was für ein sagenhafter Ausdruck »so-wahr-ich-le-be«, kapiert ihr, was das bedeutet, dass man sagen kann »so wahr ich lebe«? So-wahr-ich-le-be! Na denn Prost, »auf-dass-ich-lebe!«
    Wieder ein langes Schweigen, von grellem Zirpen durchbrochen. Das grüne Signal schmolz zusammen, zitterte, teilte sich dann und wurde größer: Ich bin mit ihr oft die Bezalel-Straße runtergerannt, machte Avram weiter, jetzt klingt er so schwach, dass Ilan sich mit dem ganzen Oberkörper über das Gerät beugt. Früher haben wir beim Markt in Nachlaot gewohnt, als ich klein war … Ich weiß nicht, ich erinnre mich nicht, ob ich euch das schon erzählt hab. Warum erinnre ich mich an nichts mehr? Plötzlich auch an keine Gesichter mehr, ich kann mich nicht mehr an Oras Gesicht erinnern … nur noch an ihre Augenbrauen, ihre ganze Schönheit steckte in den Augenbrauen.
    Jetzt atmete er mit großer Anstrengung. Ilan konnte spüren, dass er fieberte. Dass sein Bewusstsein jetzt ziemlich schnell entwich.
    Und mit Mama bin ich die Bezalel-Straße runtergerannt, ganz runter bis zum Sacherpark. Kennt den einer? Hallo?
    Ilan nickte.
    Sie hat mich an der Hand gehalten, ich war vielleicht fünf, und wir rannten bis runter, dann sind wir wieder hochgegangen und nochmal runtergerannt, bis ich keine Lust mehr hatte.
    Er röchelte, schwieg. Für einen Moment verstummte auch der Lärm im Hintergrund. Eine merkwürdige, entsetzliche Stille herrschte im ganzen Abschnitt. Ilan hatte den Eindruck, alles auf beiden Seiten des Kanals halte für einen Moment inne und lausche Avrams Geschichte.
    Ist es nicht so, wenn du ein Kind bist und ein Erwachsener mit dir etwas spielt, dann hast du immer Angst, dass er plötzlich keine Lust mehr hat? Dass er auf die Uhr guckt und etwas Wichtigeres zu tun hat?
    Ja, sagte Ilan, ja.
    Und Mama, Mama hatte nie von mir genug. Bei keiner Sache. Ich wusste, egal was, sie würde nie ein Spiel mit mir abbrechen.
    Er schwebte in Nebeln. Seine Stimme war nackt und dünn wie die eines kleinen Kindes; Ilan kam es vor, als betrachte er ihn heimlich in seiner Nacktheit, aber er konnte nicht wegschauen.
    Avram sagte: So was gibt dir Kraft fürs ganze Leben. Das macht den Menschen glücklich, nicht wahr?

    Ein religiöser, hagerer, sehr erregter Soldat mit einer Kippe stieß gegen Ilans Stuhl und bat ihn, ihm zu helfen, die obligatorischen Gegenstände des Postens zusammenzupacken. Der Soldat zwinkerte heftig und zog den Mund immer wieder wie zu einem mechanischen Lachen in die Breite. Ilan erhob sich. Als er sich streckte, merkte er, wie lange er sich nicht mehr bewegt hatte. Er kniete sich neben den Soldaten und packte Gebetsbücher, Bibeln, Kippas, einen Havdalabecher, einen Chanukkaleuchter vom Militär, Packungen mit Schabbatkerzen in eine leere Munitionskiste, und sogar einen duftenden Etrog, den man rechtzeitig zum Laubhüttenfest an den Posten geschickt hatte. Der fromme Soldat nahm den Etrog, drückte ihn an sein Gesicht und roch mit einer Art wilder Begierde. Mit fast erstickter Stimme erzählte er, seine Frau habe ihm am Ausgang von Jom Kippur ein Kind geboren, der Brigadekommandeur persönlich habe ihm das durch das abhörsichere Telefon mitgeteilt, aber weil er keine Übung mit den verwürfelten Gesprächen habe, sei er sich nicht ganz sicher, was er bekommen habe, einen Jungen oder ein Mädchen, und er habe sich geniert, den Chef mit noch einer Frage zu nerven, aber mit Gottes Hilfe werde er seinen Sohn oder seine Tochter noch sehen, und wenn es ein Junge sei, werde er ihn Schmuel nennen, nach Generalmajor Gorodisch, und wenn es eine Tochter sei – Ariela, nach Generalmajor Ariel Scharon. Er redete und zwinkerte, sein Gesichtsausdruck wechselte dauernd, und Ilan hörte die ganze Zeit in seinem Kopf, wie Avram ihn rief und beschwor, und dennoch packte er weiter ein und ermunterte den

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