Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
Soldaten, ihm von sich zu erzählen, und verachtete sich für die Erleichterung, die er empfand, wenn er für ein paar Minuten von dem Zwang erlöst war, an dem Scanner zu sitzen und Avram zuzuhören, wie er draufging.
    Ganz in der Nähe des Postens schlugen Granaten ein. Der religiöse Soldat hob die Nase in die Luft und verzerrte das Gesicht und schrie, das seien ABC-Granaten. Er zog Ilan am Arm zu einem großen Schrank, auf dem »ABC-Ausrüstung – nur im Notfall öffnen« stand. Mit dem Kolben seiner Uzi brach er das Schloss auf, die Tür sprangauf, und drinnen standen nur Stapel leerer Pappkartons. Der Soldat fing an zu schreien, er schlug sich mit den Händen auf den Kopf und trampelte wild. Ilan kehrte zu seinem Horchposten zurück und setzte wieder die Kopfhörer auf.
    Was meint ihr, wie viele Minuten wird Avram noch leben, bevor sie ihm den Bauch aufstechen? Seinen behaarten weichen Bauch, den er so gern gestreichelt hat? Seinen Bauch, die große Scheune für seine reichen Ernten …
    Es reicht, sagte Ilan, hör auf damit!
    Denn Avram, hört euch diesen Witz an, hatte eigentlich geplant, noch mindestens vierzig oder fünfzig Jahre auf Erden zu wandeln, bis er grau und steif würde, hier und da einen Busen oder Schenkel zu liebkosen, durch die große weite Welt zu streifen, Bedürftigen eine Niere oder ein Ohrläppchen zu spenden, sich seiner Fleischeslust hinzugeben und mindestens ein Buch zu schreiben, das so richtig auf den Regalen wackeln wird …
    Ilan nickte. Er nahm die Kopfhörer ab und stand auf. Er lief durch die Schützengräben des Postens, ging zu dem Wachturm, von dem man das alte Krankenhaus in Ismailia sehen konnte, da saßen auf den Sandsäcken zwei Reservisten mit hochgelegten Beinen wie auf dem Deck eines Vergnügungsdampfers. Beide waren schon vor sechs Jahren im Sechstagekrieg Wehrpflichtige gewesen, wirkten aber jetzt wie Greise, und er dachte gleichgültig, ihr Alter würde er wohl nicht mehr erreichen, sie waren unbekümmert und fröhlich und versicherten ihm, die sechste Flotte der Amerikaner sei unterwegs und werde in ein paar Stunden eintreffen, dann würden die Araber die Stunde bereuen, in der ihnen die Idee gekommen war, uns anzugreifen. Sie sangen ihm Rabin wartet auf Nasser als ohrenbetäubendes Duett vor, und Ilan roch etwas und begriff, sie waren besoffen – vermutlich hatten sie den schweren Wein für den Kiddusch getrunken. Und tatsächlich entdeckte er, als er sich umschaute, zwischen den Sandsäcken versteckt einige leere Flaschen.
    Er verließ den Wachturm und blickte auf das blaue Wasser und die grünen Gärten von Ismailia. Nicht weit von ihm überquerte eine endlos lange Kolonne ägyptischer Jeeps auf einer Pontonbrücke den Kanal. Dieser gewaltige Strom von Menschen und Fahrzeugen ergoss sichganz in der Nähe des Postens, und sie machten sich noch nicht einmal die Mühe, ihn einzunehmen. Ilan dachte an den Film Der längste Tag , den er mit Avram zweimal gesehen hatte. Er spürte, dass er die verschiedenen Teile der Wirklichkeit nicht mehr miteinander verbinden konnte, und hörte einfach auf, sich zu wundern.
    Granaten schlugen ein, und die Metallnetze, die den Detonationsschutz zusammenhielten, begannen zu reißen. Felsstücke flogen um ihn herum. Jetzt wurden die Stellungsbauten zerrieben, die Luft war voll Asche, Ruß und Staub. Ilan stand da, nicht in der Lage, den Blick nach Süden Richtung Magma zu wenden, nahm aber doch an, dass der Rauch, den er im Augenwinkel sah, von dort aufstieg, wo Avram war. Er überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, den Kommandeur des Postens doch dazu zu bringen, ein paar Soldaten loszuschicken, um Avram zu retten, und er wusste, keine Chance, der Kommandeur würde keinen seiner Leute zu einem solchen Kamikaze-Unternehmen beordern. Er tastete sich seinen Weg zum Befehlsbunker weiter, seine Augen waren rot und tränten, er konnte kaum atmen. Als er an seinem kleinen Tisch vorbeikam, warf er einen Blick auf den Scanner. Er war nicht in der Lage, sich nochmal dort hinzusetzen.
    In der stickigen Luft des Bunkers erinnerte sich jemand an die Kurbel der Handluftpumpe, doch die sorgte kaum für Frischluft, und das Geräusch, das sie machte, wie eine Art schwaches Heulen von Schakalen, deprimierte einen nur noch mehr. Eine rauchende ägyptische MIG trudelte auf die Erde, über ihr öffnete sich wie ein Baldachin ein Fallschirm. Von den Wachtürmen war vereinzelt schwacher Jubel zu hören. Der Pilot war genau am Rand des Kanals

Weitere Kostenlose Bücher